Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus
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Ein weiteres Problem beim Erlernen des Lesens und Schreibens bestand darin, dass Benjamin unerschütterlich daran glaubte, dass er erst sämtliche Buchstaben des Alphabets erlernen musste oder wollte, bevor er dieses Wissen zur Anwendung bringen konnte. Er war bereit, alle Buchstaben hintereinander in der „richtigen“ Reihenfolge zu erlernen, aber Frau Ferros verbot den Kindern eindringlich, sich Buchstaben anzueignen, die sie in der Schule noch nicht durchgenommen hatte. Da nach mehr als einem Jahr des Schulbesuchs noch keine Einigung mit Frau Ferros betreffs ihrer konventionellen Lehrmethoden zustande gekommen war, beschlossen wir, selber zu handeln. Nach langem Suchen fanden wir Lernmaterial für den Deutschunterricht der ersten und zweiten Klasse, wo eine Maus namens „Mimi“ durch das gesamte Übungsmaterial führte und fast alle Seiten mit Mäusegeschichten angefüllt waren. Dazu gab es noch eine Handpuppe, die sich bestens zur Gesprächsanbahnung eignete, und verschiedene Stempel, die ich zur Bewertung benutzte. Das alles kam prima bei Benjamin an und im Laufe eines halben Jahres lernte er so zu Hause das komplette Alphabet in Schreib- und Druckschrift sowie einfache Texte zu schreiben und zu lesen. Wenige Wochen nach Übungsbeginn hatte er bereits seine Klassenkameraden weit überholt, aber trotzdem verweigerte er weiterhin in der Schule das Lesen gelegter Wörter. Er setzte auch keine Wörter mit Silbenkärtchen von dem Wortmaterial der Fibel zusammen, obwohl er zu Hause aus einer hübschen Fühlbox mit Meeresmotiven Moosgummi-Buchstaben richtig heraussuchte und daraus die geforderten Wörter zusammensetzte oder Wörter in den fast weißen, feinkörnigen Sand der Sandwanne schrieb. Unsere häuslichen Übungen waren allerdings sehr zeitaufwendig, da ich immer neben meinem Sohn sitzen und öfter meine Hand auf seinen linken Arm oder seine Schulter legen musste, damit er arbeiten konnte. Damals wusste ich noch nicht, dass ich ihm damit einen Impuls zum Arbeitsbeginn oder zum Weiterarbeiten gab, ich spürte nur, dass mein Sohn diese Unterstützung brauchte. Jahre später, als ich immer noch bei vielen Schulaufgaben neben Benjamin sitzen oder in der Nähe sein musste, fragte ich ihn einmal nach dem Grund dafür, und er antwortete mir: „Das ist deine gute Energie, die mir sonst fehlt.“
Benjamins häusliche Fortschritte betreffs des Erlernens des Alphabets weckten den Wunsch in ihm, Computerspiele auszuprobieren, für die er eigentlich noch zu jung war, weil er dazu Lesen und Schreiben gut beherrschen musste. Leon sah darin kein Problem und vertrat die Meinung, dass diese Herausforderung seine Lese- und Schreibfähigkeiten sogar verbessern wird. Ich war zwar eher skeptisch, ließ es aber dennoch auf einen Versuch ankommen. Ein Computerspiel, bei dem der Spieler als lustiger, vegetarischer Außerirdischer von der Erde aus zu seinem Heimatplaneten zurückgelangen musste und wo die Fortbewegung von einem Himmelskörper zum nächsten durch das Lösen von Deutsch-, Mathematik- und Konzentrations- sowie Merkaufgaben ermöglicht wurde, war für Grundschüler der dritten und vierten Klasse konzipiert worden und befand sich in Conrads Besitz. Benjamin fühlte sich von diesem Programm so in den Bann gezogen, dass er mit großer Energie daran arbeitete, dieses Spiel testen zu dürfen. In den ersten vier Wochen benötigte Benjamin ständig meine oder Conrads Hilfe, um mit den Aufgaben des Spiels zurechtzukommen. Aber dann wurde er von Woche zu Woche ausdauernder und frustrationstoleranter. Er arbeitete dieses Spiel, welches eigentlich ein klug verpacktes Lernprogramm war, so oft durch, bis ihm ein kompletter Durchlauf ohne fremde Hilfe gelang. Danach versuchte er sich an schwierigen Simulationen, mit denen er ebenfalls gut zurechtkam. Conrad gelang es sogar, seinen Bruder dazu zu überreden, Teile eines Computer-Strategiespiels aus Papier nachzubauen und dann tagelang mit ihm und ausgewählten Plüschtieren alle möglichen Optionen durchzutesten.
Da Benjamin im verhassten Morgenkreis, der jeden Montagmorgen in der Schule abgehalten wurde, immer nur „Computer gespielt“ als Wochenendbeschäftigung von sich gab, fühlte sich Frau Ferros verpflichtet, uns mitzuteilen, wie falsch unser Handeln sei, wenn wir unserem Sohn derartige Spiele erlaubten, bevor er gewillt ist, seine Silbenkärtchen in der Schule richtig zu legen. Das erinnerte mich sofort an die Aussage seiner früheren Spieltherapeutin, welche mir verbieten wollte, Spiele mit Benjamin zu Hause zu spielen, die er in der Therapiestunde verweigert hatte. Frau Ferros hatte allerdings ein generelles Problem mit der Benutzung von Computern, denn sie verkündete einmal auf einem Elternabend Folgendes über die Deutschunterrichtsstunden: „Eine Stunde davon gehen wir an den Computer, da lernen wir zwar auch etwas, aber die Stunde ist verloren.“ Für Benjamin zählten die Unterrichtsstunden am Computer mit Sicherheit zu den effektivsten. Im Gegensatz zu Frau Ferros zeigte seine Sprachtherapeutin Interesse an Benjamins Computerspielen und schaute sich mit ihm gemeinsam Demoversionen von einigen seiner Programme an, um dann daran anzuknüpfen.
„So vernachlässigte er z. B. durch sein großes Tempo beim Essen die richtige Besteckhaltung und die Einhaltung von Tischsitten.“ Dies war Frau Ferros’ Einschätzung von Benjamins Essverhalten zum Ende des ersten Schuljahres. Damals kündigte die Lehrerin unseres Sohnes an, dass daran „weiter mit liebevoller Konsequenz“ gearbeitet werden würde, was aber leider in einen erbitterten Machtkampf ausartete. Benjamin konnte immer noch nicht mit einem Messer umgehen. Er schaffte es weder, ein Stück Fleisch zu zerteilen, noch ein Brot zu schmieren. Uns war die Tatsache bekannt, dass er für viele Dinge mehr Zeit zum Erlernen benötigte, weil seine Kraftdosierung und die Koordination seiner Bewegungen für einen Umgang mit Messer und Gabel noch nicht geschult genug waren. Da die Schule seit Benjamins Einschulung jedoch eine Ganztagsschule war, mussten wir ihn wohl oder übel zum Schulessen anmelden. Wir wussten allerdings, dass ihm oft von dem Geruch des gekochten Essens unwohl wurde und dass er meistens nur die Beilage aß, weil er nahezu sämtliches gekochtes Gemüse ablehnte. Weil Frau Ferros sich weigerte, sein Fleisch zu schneiden, und ihn auch daran hinderte, es in die Finger zu nehmen, verzichtete unser Sohn letztendlich darauf. Sie versuchte weiterhin, ihn zum Essen aller Gerichte zu zwingen, und warf uns eine ungesunde Ernährung vor, obwohl Benjamin beinahe täglich frisches Obst oder Gemüse in seiner Lunchbox vorfand und dieses immer aufaß. Ich hätte ihm lieber diesen täglichen Machtkampf erspart und ihm Proviant mitgegeben, aber aus personellen Gründen war es abermals nicht möglich, unseren Sohn in der Pause separat zu betreuen. Ein Jahr später wechselte die Schule den Anbieter, wobei das Essen nicht nur preiswerter, sondern auch ungenießbarer wurde. Dies war für uns der endgültige Auslöser für das Abmelden unseres Sohnes vom Schulessen. Benjamin musste zwar trotzdem mit den anderen Kindern den Speisesaal aufsuchen, durfte aber endlich seinen mitgebrachten Proviant verzehren und bekam dann am späten Nachmittag eine warme Mahlzeit zu Hause. Das folgende Beispiel zeigt, dass es auch optimale Lösungen für autistische Kinder bei der Mittagsmahlzeit in öffentlichen Schulen geben kann: „Seit Jahren ist Lucas schon sehr wählerisch, wenn es ums Essen geht, und in die Vorschule habe ich ihm immer etwas mitgegeben. In seiner neuen Schule ist man sehr entgegenkommend. Das Küchenpersonal ist sehr nett und bereitet Hamburger nach meinem Rezept für ihn zu. Lucas darf sogar in die Küche, wenn sie sein Essen vorbereiten, und er darf es salzen und pfeffern.“2
Zu Beginn seiner Schulzeit verzehrte unser Sohn stets sein gesamtes mitgebrachtes Essen in der allerersten Pause. Er hatte keinen Plan, wie er seinen Proviant einteilen sollte, kein Zeitgefühl dafür, wie lang sein Schultag werden würde oder wann er eventuell noch einmal Hunger bekommen könnte, und es mangelte ihm an einem Sättigungsgefühl, was uns zu Hause zwang, seine Nahrungsaufnahme streng zu reglementieren. Dieses Problem lösten wir, indem Leon Benjamins Verpflegung in Portionen aufteilte, jede Portion in eine gesonderte Butterbrottüte legte und jede Tüte mit der entsprechenden Pause nummerierte. Von da an gab es keine Probleme mehr mit der Nahrungseinteilung in der Schule, aber Benjamin brachte im Gegensatz zu seinen Brüdern nie ein Schulbrot wieder mit nach Hause.
Der Dose, der Tor, der Auto, das Erde, das Sonne, das Mond, die Mund, die Radio, die Land – so sah Benjamins erstes schulisches Übungsblatt zum Thema „bestimmte Artikel“ aus. Im Mitteilungsheft unseres Sohnes wurde uns in warnender roter Schrift sogleich die Lösung des Problems mitgeliefert: „Bitte darauf achten, dass Benjamin die Artikel richtig verwendet. Er hatte heute nicht ein Beispiel richtig.“ Wie sollten wir darauf achten, dass unser Sohn die Artikel richtig verwendet, wenn er doch gar keine benutzte? Deshalb