Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln - Inez Maus страница 12
„Jedes Substantiv hat ein Geschlecht, und in dessen Verteilung liegt kein Sinn und kein System; deshalb muß das Geschlecht jedes einzelnen Hauptwortes für sich auswendig gelernt werden. Es gibt keinen anderen Weg. Zu diesem Zwecke muß man das Gedächtnis eines Notizbuches haben. Im Deutschen hat ein Fräulein kein Geschlecht, während eine weiße Rübe eines hat. Man denke nur, auf welche übertriebene Verehrung der Rübe das deutet und auf welche dickfellige Respektlosigkeit dem Fräulein gegenüber.“3 Weitaus bedeutendere Personen als unser Sohn hatten ihre Schwierigkeiten mit dem Erlernen der deutschen Sprache, wie diese Zeilen von Mark Twain beweisen, welcher 1878 in Heidelberg versuchte, diese Fertigkeit zu erwerben, während er die alte Welt zu Fuß erkundete. Er fand, dass es gewiss keine andere Sprache gibt, „die so ungeordnet und unsystematisch, so schlüpfrig und unfaßbar ist“.4 Es gab nur einen entscheidenden Unterschied zwischen Mark Twain und unserem Sohn: Der geniale amerikanische Schriftsteller eignete sich die deutsche Sprache als Fremdsprache an, aber für Benjamin hingegen war es seine Muttersprache. Oder etwa nicht? In dieser Zeit fiel uns beim Nachdenken über dieses Thema auf, dass Benjamin die deutsche Sprache wie eine Fremdsprache erlernte. Er eignete sich Vokabel für Vokabel und Regel für Regel an, alles, was wir mühsam in ihn hineinpressten. An seinen Äußerungen erkannten wir, dass er sämtliches Gehörte in Bilder umsetzte und so abspeicherte. Gänseblümchen als „Entenglöckchen“ und Kopfhörer als „Ohrenschützer“ zu bezeichnen, waren nur zwei Beispiele dafür, welche uns quasi bildlich vor Augen führten, wie Benjamins Informationsverarbeitung funktionierte. Aber wie sollte er nun die Benutzung von Artikeln erlernen, die offenbar nicht nur ihm überflüssig und unsinnig vorkamen?
In der Schule vertrat man die Meinung, dass bei jeder Äußerung unseres Sohnes auf die korrekte Benutzung der Artikel geachtet werden müsse. Diese Methode kam im Unterricht und auch in der Sprachtherapie konsequent zur Anwendung. Benjamin wurde immer wieder aufgefordert, bei jedem benutzten Substantiv den korrekten Begleiter zu erraten, und spätestens beim dritten Versuch hatte er zwangsläufig Erfolg. Aber eine Verbesserung seines Vermögens, Artikel richtig zu verwenden, stellte sich auch nach mehreren Wochen nicht ein, es blieb beim Raten. Zu Hause begannen wir damit, den richtigen Artikel zu nennen und im Raum stehen zu lassen. Versuchten wir, von Benjamin die Benutzung eines Artikels zu erpressen, antwortete er nur „Was!“ und schränkte dann seine Kommunikation mit uns spürbar ein, was ja auch verständlich war, denn so machte eine Unterhaltung eben keinen Spaß mehr. Wie er sich in der Schule bei den erzwungenen Übungen verhielt, vermag ich nicht zu sagen. Aber auch unser Versuch des zwanglosen Korrigierens blieb völlig erfolglos. War es unmöglich, Benjamin diese Fertigkeit beizubringen, oder fehlte uns nur die richtige Idee?
Auf der Suche nach einer Lösung kam ich zu der Erkenntnis, dass das Erlernen der Benutzung von Artikeln nicht über Hören und Sprechen funktionieren würde, sondern dass ich die visuelle Überlegenheit unseres Sohnes dafür ausnutzen musste. Ich begann, Übungsblätter für Benjamin zu entwickeln, in der Hoffnung, dass unser Sohn wenigstens einen Teil der Substantive mit ihren Begleitern auswendig lernen würde. Nun musste ich noch das richtige Maß finden und eines Abends, als ich wieder einmal unsere Sorgen mit ins Bett nahm, fiel mir plötzlich die romantische Filmkomödie „Frankie & Johnny“ ein. Frankie, die von Michelle Pfeiffer gespielte Bedienung in einem griechischen Lokal, wundert sich, warum der gerade aus dem Gefängnis entlassene Koch Johnny, welcher von Al Pacino dargestellt wurde, so viele Fremdwörter beherrscht. Daraufhin erzählt ihr Johnny, dass er jeden Tag beim Rasieren ein Fremdwort und dessen Bedeutung lernt. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass Regelmäßigkeit und Beschränkung genau die zwei Dinge waren, die zum Erfolg führen könnten. Also versah ich daraufhin jedes Übungsblatt lediglich mit zehn Wörtern. In der linken Spalte standen die bestimmten Artikel, in der Mitte die Übungswörter und rechts zeichnete ich Bilder von den Übungswörtern. Benjamin hatte nun die Aufgabe, die Artikel mit den Wörtern und die Wörter mit den entsprechenden Bildern zu verbinden. Mit einer zweiten Farbe forderte ich einen weiteren Versuch der fehlerhaften Zuordnungen. Danach folgte die Auswertung in einem Kästchen mit Belohnungsbild und für den Rest des Tages wurde nicht mehr über Artikel geredet. Das war enorm wichtig, weil Benjamin einerseits durch die Übungen merken sollte, dass die Begleiter der Substantive bedeutsam sind und von ihm geübt werden müssen, andererseits sollte er sich die übrige Zeit des Tages entspannen und mit Freude unbeschwert kommunizieren können. Auch wenn es mir schwerfiel, ihn nicht andauernd zum Üben aufzufordern, war dies mit Sicherheit der richtige Weg.
Benjamins Reaktion auf die Artikel-Übungsblätter fiel sehr unterschiedlich aus. Es gab Tage, wo er sich mit wenig Widerstand in sein Schicksal fügte, an anderen Tagen schimpfte er laut, zerknüllte sein Arbeitsblatt und schlug gelegentlich um sich, wenn ihm jemand zu nahe kam. Seltsamerweise zerriss er nie ein Übungsblatt. Irgendwann gab er seinen Widerstand auf und erledigte meist recht flink seine Arbeit, aber mir tat jedes Mal die so verloren gegangene Zeit und Energie leid. Verzweifelt versuchte mein Sohn, Regeln für die Vergabe der Artikel aufzustellen. So glaubte er eines Tages, dass Wörter, die sich reimen, auch dieselben Begleiter haben müssten, bis „die Maus“ in „das Haus“ ging und seine Regel zunichtemachte. Ein anderes Mal verkündete er triumphierend, dass alle Wörter, die auf „e“ enden, weiblich sind: die Katze, die Tasse, die Hose, die Wolle, die Welle, die Taube …, ja, das schien zu funktionieren, wenn da nicht dieser furchtbare Löwe mit bedächtigem Schritt über sein Blatt marschiert wäre. An dieser Stelle möchte ich noch einmal Mark Twain zu Wort kommen lassen, der seine Verwirrung über die grammatischen Geschlechter der deutschen Sprache wie folgt beschrieb: „Ein Baum ist männlich, seine Knospen sind weiblich, seine Blätter sind sächlich; Pferde sind geschlechtslos, Hunde sind männlich, Katzen sind weiblich – natürlich einschließlich der Kater; jemandes Mund, Hals, Busen, Ellbogen, Finger, Nägel, Füße und Leib gehören dem männlichen Geschlecht an, und sein Kopf ist männlich oder sächlich, je nach dem Wort, das zur Bezeichnung gewählt wird, und nicht nach dem Geschlecht der Person, die ihn trägt – denn in Deutschland tragen alle Frauen entweder männliche oder geschlechtslose Köpfe; jemandes Nase, Lippen, Schultern, Brust, Hände, Hüften und Zehen gehören dem weiblichen Geschlecht an; und seine Haare, Ohren, Augen, Kinn, Beine, Knie, Herz und Gewissen haben überhaupt kein Geschlecht. Der Erfinder der Sprache hat wahrscheinlich das, was er vom Gewissen wusste, vom Hörensagen erfahren.“5 Was für ein Durcheinander! Als Muttersprachler denken wir nicht weiter über all diese Ungereimtheiten nach und amüsieren uns gelegentlich über das unpassende Geschlecht eines bestimmten Begriffs, wie beispielsweise die Frage, warum es „die Schnecke“ und nicht „das Schneck“ heißt, wo doch die gewöhnlichen Landschnecken Zwitter sind. Unsere beiden anderen Söhne haben die Grammatik ebenso wie die meisten Kinder beim Spracherwerb durch Zuhören und