Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus

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Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln - Inez Maus

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einen selbst gezeichneten Katalog mit allen Pokémons an, wofür er Karteikarten benutzte. Sorgfältig listete er Eigenschaften und Fähigkeiten der Geschöpfe auf und schulte somit freiwillig seine Schreibfertigkeiten. Da auch er seine Sammelkarten vervollständigen wollte, ging er auf seine Brüder zu, um mit ihnen doppelte Karten zu tauschen. An kleinen Partys und ausgedehnten Spielen mit den Plüschfiguren, welche seine Geschwister zelebrierten, nahm er bedeutend ausdauernder und toleranter teil als an früheren Spielen. Seine sozialen, sprachlichen und motorischen Fähigkeiten wurden so völlig ohne Zwang trainiert. Außerdem eignete sich alles, was irgendwie mit Pokémons zu tun hatte, sei es nun die Fernsehserie, die wir für unsere Kinder aufzeichneten, oder seien es kleine Geschenke, mit denen ich mich bei jeder Gelegenheit bevorratete, hervorragend als Motivationsmittel für Benjamin. Wollte er ungeliebte Aufgaben nicht erledigen, so machte ihn die Aussicht auf das Ansehen einer Folge Pokémon, auf ein paar Aufkleber oder auf ein Tütchen mit Sammelbildern meist sehr gefügig. Später, als auch unsere beiden Kleinen eine eigene Edition für den Gameboy besaßen, tauschte Benjamin mit seinen Brüdern ebenfalls seine virtuellen Monster. Und Conrad wechselte mit seinem besten Freund Sören digitale Kreaturen für seinen Bruder, weil Benjamin diese Leistung nicht fertigbrachte. Es berührte mich zutiefst, dass mein Großer dies aus eigenem Antrieb und aus Liebe zu seinem Bruder tat. Zum allerersten Mal begann unser mittlerer Sohn in dieser Zeit über seine Empfindungen zu reden, weil er die Pokémons in absolute Lieblinge, welche, die „ganz gut“ waren, und solche, die er gar nicht mochte, einteilte. Ich kann nur sagen, ich begann, diese Monster zu mögen, weil sie uns allen so sehr das Leben erleichterten.

      Benjamin grübelte außerdem bei jeder einzelnen Kreatur darüber, welche Lebewesen oder Fantasy-Figuren dem Entwickler wohl als Inspiration gedient haben könnten. Da ich mich mit Leib und Seele auf diese Diskussionen einließ, wurden unsere Gespräche ausdauernder und intensiver. Mir war wichtig, dass wir miteinander redeten, worüber wir uns unterhielten, war vorerst zweitrangig. Wenn Kommunikation für unseren Sohn erst einmal selbstverständlich geworden ist, dann werden wir auch über andere Themen sprechen können. Dies sollte sich bewahrheiten, denn ein paar Jahre später plapperte Benjamin zumindest im Familienkreis wie ein Wasserfall, weil bei ihm ein Gedanke den anderen jagte und er uns diese Ideen und Einfälle unbedingt mitteilen wollte. Leon prägte dafür liebevoll den Begriff „Assoziationskettenrasseln“. Als wir ihn einmal zum Schweigen aufforderten, antwortete er uns entrüstet: „Früher habe ich euch zu wenig geredet und jetzt rede ich euch zu viel!“

      In der zweiten Hälfte von Benjamins zweitem Schulbesuchsjahr fielen uns zunehmend mehr Stressreaktionen an unserem Sohn auf. Außer dem Kauen an den Fingernägeln, an das wir uns ja beinahe schon gewöhnt hatten, begann er zu unserem Entsetzen jetzt erneut damit, seine T-Shirts zu zernagen, was er seit Beginn der Vorschule nach seiner reichlich missglückten Kindergartenzeit nicht mehr getan hatte. Nach der Schule lief er nur noch nervös auf und ab, konnte sich auf kein Spiel mehr konzentrieren und das abendliche Einschlafen gestaltete sich immer schwieriger, weil Benjamin uns zwar müde erschien, aber nicht einschlafen konnte. Wir vermuteten, dass er Kummer hatte, aber konnten nicht herausfinden, was ihn so bedrückte. Als ich in dieser Zeit die Aufforderung zu einem Elterngespräch von Frau Ferros bekam, glaubte ich, den Dingen nun auf den Grund gehen zu können. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Frau Ferros bombardierte mich mit Vorwürfen, ließ mich kaum zu Wort kommen und wertete alle meine Argumente als Ausreden. Das Gespräch lief folgendermaßen ab. Nach der knapp ausgefallenen Begrüßung wurde ich darüber aufgeklärt, dass Benjamin jeden Tag draußen spielen müsse, und eine Menge Tipps für geeignete Sportarten gab die Lehrerin ungefragt dazu. Ich erwiderte, dass unser Sohn aus den verschiedensten Gründen, die ich alle versuchte aufzuzählen, (noch) nicht allein draußen spielen kann, erklärte die Probleme, die er aufgrund seines schwachen Muskeltonus mit den unterschiedlichen Bewegungsabläufen hat und … Aber sie unterbrach mich und beharrte darauf, dass ich meinen Sohn einfach nur auf den Spielplatz schicken müsse, alles andere ergäbe sich dann von allein. In ihrem Bericht schrieb sie dazu wenig später: „Durch das Elternhaus sollte es Benjamin unbedingt ermöglicht werden, seine Freizeit so oft wie möglich mit anderen Kindern (auch fremden) außerhalb der Wohnung zu verbringen. Es ist für seine soziale Entwicklung wichtig, dass er sich darin übt, zu Kindern soziale Kontakte herzustellen, diese zu pflegen, Kompromisse zu schließen […]. Nur so kann es gelingen, seinem egoistischen Verhalten entgegenzuwirken […].“ Dann warf Frau Ferros mir vor, dass unser Sohn „unfair, rücksichtslos und kontaktgestört“ sei, was sie am Schuljahresende so auch in seine Beurteilung schrieb: „So kam es auch vor, dass er körperlichen Einsatz zeigte, um seine Interessen durchzusetzen.“ Benjamin müsse beim Essen immer der Erste sein und er habe sie heute bei der Mittagsmahlzeit unter dem Tisch getreten und sich nicht entschuldigt! Bei diesen Ausführungen spürte ich einen leichten Hass in ihrer Stimme, aber Frau Ferros schien nie den Stress zu spüren, den Benjamin in solchen Situationen aushalten musste. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass unser Sohn oft an uns oder seine Geschwister anstieß, aber das lag an seiner schlechten Bewegungskoordination und nicht an der ihm unterstellten Rücksichtslosigkeit.

      Die immer noch anhaltenden Rivalitäten mit seinem Klassenkameraden Kevin waren der nächste Punkt auf Frau Ferros’ Beschwerdeliste, wozu ich nichts weiter sagte und mich mit dem Gedanken tröstete, dass es doch ihre Aufgabe ist, Ordnung in die Klasse zu bringen. Frau Ferros bemängelte, dass Benjamin Grundbegriffe, die ein Achtjähriger beherrschen muss, nicht kenne. Das verwunderte mich und ich fragte genauer nach. Sie verkündete, er kenne keine Kleidungsstücke, aber dagegen erhob ich energisch Einspruch, denn ich wusste genau, dass mein Sohn über dieses Wissen verfügte. Etwas kleinlaut gab Frau Ferros daraufhin zu, dass Benjamin nicht wusste, was eine Bluse ist. Wie sollte er das auch wissen, wo er doch nur Brüder hat? Mit dem Lesen klappe es nicht, weil Benjamin dafür einfach zu „faul“ sei. Dass uns unser Sohn seit Beginn des Frühlings jeden Abend eine Seite aus einem Tierbuch vorlas, glaubte sie mir einfach nicht. Wie sollte ich ihr dies auch beweisen, musste ich es überhaupt beweisen? Des Weiteren könne sich unser Sohn keine vier Wörter hintereinander merken, wenn sie nur einmal vorgelesen werden. Diese Fähigkeit sei aber wichtig für das Schreiben von Diktaten. Damit hatte Frau Ferros recht, das war uns auch bereits aufgefallen und daran arbeiteten wir schon mit verschiedenen Übungen.

      Als Nächstes regte sich Benjamins Lehrerin furchtbar über sein „abgehobenes Wissen“ auf, wogegen es ihm an „Basiswissen“ mangele. Entrüstet berichtete sie, dass er ihr den Aufbau des Innenohres haarklein erklärt habe und endete mit dem Ausruf: „Wozu muss er das denn jetzt wissen?!“ Um mir zu verdeutlichen, was sie meinte, verglich sie das Wissen „normaler“ Kinder (hier schrillten meine inneren Alarmglocken) mit einem Dreieck, wobei die breite Unterseite das Basiswissen sei und die nach oben zulaufende Spitze das immer speziellere Wissen darstelle. Bei Benjamin sei dies genau umgekehrt, sein Dreieck stehe auf der Spitze, weil sein Basiswissen so dünn und sein Spezialwissen so extrem sei. Das mag ja teilweise sogar zutreffend sein, aber sie machte mir den Vorwurf, dass wir diese Verteilung unserem Sohn so anerzogen hätten. Und sie war nicht in der Lage, diese Erkenntnis für einen besseren Umgang mit Benjamin zu nutzen, ihn beispielsweise über seine Interessen zu erreichen oder zu motivieren. In meinem Tagebuch hielt ich nach diesem unbefriedigenden Gespräch die Vermutung fest, dass Frau Ferros sich vor Benjamins Intelligenz fürchtete, wenn er ihr mit acht Jahren Dinge erklärte, die sie nicht so mühelos erklären konnte, und wenn er sie im Unterricht gnadenlos verbesserte, sowie sie einen Fehler beging. „Ein Schulmeister hat lieber einige Esel als ein Genie in seiner Klasse, und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner. Wer aber mehr und Schweres vom andern leidet, der Lehrer vom Knaben oder umgekehrt, wer von beiden mehr Tyrann, mehr Quälgeist ist und wer von beiden es ist, der dem anderen Teil seiner Seele und seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man nicht untersuchen, ohne mit Zorn und Scham an die eigene Jugend zu denken.“1 Beim Lesen dieser Zeilen könnte man meinen, Hermann Hesse kannte die Spannungen zwischen Benjamin und Frau Ferros.

      Abschließend erwähnte Frau Ferros so ganz nebenbei, dass unser Sohn wegen seiner Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache sowieso keine Fremdsprache erlernen werde. Ich wagte es auch kaum zu hoffen, dass Benjamin später einmal ein oder zwei Fremdsprachen

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