Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus

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Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln - Inez Maus

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stand, wogegen es eine große Sonne nur gab, wenn auch das Betragen tadellos gewesen war. Was nützte dieses System, wenn Benjamin überhaupt nicht wusste, was er falsch gemacht hatte?! Frau Ferros erklärte mir verärgert, dass unser Sohn im Fahrstuhl andere Kinder trete, auf dem Schulhof schubse, sich mit einem Mitschüler raufe, gelegentlich kratze und dann im Gespräch alles abstreiten würde. Sie trug mir auf, mit Benjamin darüber zu reden. Unser Gespräch war mitten in der Hofpause beendet, da ich zu ihren Schilderungen nicht wirklich etwas sagen konnte. Dieses Kind, welches sie mir gerade beschrieben hatte, war mir vollkommen unbekannt. Beim Verlassen des Schulhauses sah ich, dass Benjamin allein und ganz traurig, „wie ein Häufchen Unglück“ trug ich damals in mein Tagebuch ein, auf der Kante der Blumenrabatte saß. Seltsamerweise war ich nach dem soeben Gehörten nicht verärgert über meinen Sohn, sondern er tat mir unendlich leid, als ich ihn dort so sitzen sah, und ich verließ die Schule bedrückt und deprimiert. Auf dem Heimweg grübelte ich, warum sich Benjamin im Unterricht tadellos verhielt, in den Pausen aber vollkommen ungezogen wirkte. Dafür gab es nur eine Erklärung: Die Pausen waren unstrukturiert, unvorhersehbar, unsicher und einer solchen Gefahr konnte er nur mit Widerstand begegnen. In der Vorschule hatte es derartige Verhaltensprobleme schon deshalb nicht gegeben, weil die Vorschüler die Hofpausen im Klassenraum verbrachten und erst zu einem späteren Zeitpunkt den Hof aufsuchten.

      „‚Sofort hörst du mit dem Gerede auf! Ich weiß keine Antwort! Vielleicht bist du ein wenig anders als die anderen, vielleicht ist es das. Für dieses andere gibt es aber keine extra Schulen. Deshalb gehörst du zu uns. Du bist mein bester Schüler, du weißt Dinge, die andere nach sechs Schuljahren nicht kennen. Ja, vielleicht bist du anders.‘ […] ‚Aber das ist mir egal‘, […] ‚ganz egal ist mir das! […]‘“1 Diese Zeilen las ich einige Jahre später gerade zu der Zeit, als ich mit dem Sichten meines Materials zum Buch beschäftigt war, und dabei musste ich schwermütig feststellen: So einen Lehrer hätte Benjamin benötigt! So einen Lehrer, der seine Stärken erkennt sowie fördert, seine Schwächen akzeptiert und seine Hände schützend über ihm ausbreitet. So einen Lehrer, wie den Lehrer Mengen in der fiktiven Geschichte über die Kindheit des kleinen Hugo Hassel zur Zeit des Nationalsozialismus.

      Wir beschlossen, die Situation ein paar Wochen zu beobachten, bevor wir handeln würden. Die Größe der verdienten Sonnen war so unbeständig wie das Herbstwetter und Benjamin litt jedes Mal furchtbar, wenn er nur eine kleine Sonne für seine Bemühungen einer ganzen Woche erhalten hatte. Da unser Sohn bei den handgezeichneten Sonnenbildern oft nicht sicher feststellen konnte, ob sie denn nun groß oder klein waren, und er deshalb unzählige Male bei seiner Lehrerin nachfragte, änderte Frau Ferros ihr System. Nun gab es für schulische Bestleistungen immer eine große Sonne, welche bei Bedarf von einer fetten schwarzen Wolke verdunkelt wurde. Diese Methode war für Benjamin wenigstens eindeutig und er erntete ab diesem Zeitpunkt für das gesamte Schuljahr große Sonnen. Immer wieder verdunkelten fast halbseitige, düstere Wolken seine wohlverdiente Sonne, beispielsweise weil: „Er ist mit seinen Straßenschuhen auf dem Teppich, auf dem die anderen Kinder spielen.“ Manchmal breiteten sich die Strahlen aber auch ganz ungehindert aus. Unser Vorschlag, Benjamin die Hofpause zu ersparen, wurde aus Personalmangel abgelehnt, außerdem brauche unser Sohn „frische Luft zwischen den Unterrichtseinheiten“.

      Eine geschwollene, rote Nase, gepaart mit daneben befindlichen Flecken, prangte in Benjamins Gesicht, als er kurz vor den sehnsüchtig erwarteten Herbstferien von der Schule nach Hause gebracht wurde. Bis zum Abend verfärbte sich die schmerzhaft aussehende Prellung ins Bläuliche. Kevin, ein Schüler aus seiner Klasse, hatte ihm „sei Schuh auf Nase haun“, das erfuhr ich auf meine erschreckte, eindringliche Nachfrage. Ich konnte bei meinem Sohn keinen Ausdruck von Schmerz, Wut, Hass, Rachedurst oder etwas Ähnlichem ausmachen. Auch den Grund für diese Attacke erfuhr ich nicht, denn Benjamin wollte oder konnte nicht darüber reden und sein Mitteilungsheft schwieg genauso. Ob auch Kevin Spuren der Auseinandersetzung davongetragen hatte, blieb ebenfalls im Dunkeln. In den nächsten Monaten wies Benjamin immer wieder einmal tiefe Kratzer oder Blutergüsse auf. Die Ursache dafür lag in dem eigentlich löblichen Bestreben von Frau Ferros, Benjamin einen Freund zu verpassen. Aber die Situation in der Klasse erwies sich als für Freundschaften schwierig. Drei Mädchen der Klasse saßen im Rollstuhl und kamen gut miteinander aus. Ein weiteres Mädchen und ein Junge litten an schweren Erbkrankheiten und verbrachten mehr Zeit im Krankenhaus als in der Schule. Übrig blieb nur noch Kevin, ein hyperaktiver Junge mit Aufmerksamkeitsdefizit, bei dem zwei Jahre später noch eine Lernbehinderung festgestellt wurde. Ich denke, dass beide Knaben von den sozialen Anforderungen dieser Situation hoffnungslos überfordert waren, was zu den rhythmischen Aggressionen führte.

      Der stürmische, verregnete Herbst zwang Conrad, sich häufiger drinnen aufzuhalten, und brachte ein neues Hobby unseres Erstgeborenen zum Vorschein. Da die tägliche Spielzeit am Computer von uns limitiert wurde, kam Conrad auf die wunderbare Idee, seine Computerspiele mithilfe von LEGO-Steinen und -Platten nachzubauen, was nicht selten den gesamten Fußboden seines geräumigen Zimmers bedeckte. Benjamin wurde von dieser Beschäftigung magisch angezogen. Irgendwann beschloss Conrad, seinem Bruder ein Mitbaurecht zu gewähren, was er nicht bereute, denn Benjamin kannte jedes noch so winzige Detail aus Conrads Spielen, obwohl er nur hin und wieder seinem Bruder beim Spielen über die Schulter geschaut hatte. Jedes Mal, wenn Conrad glaubte, sein Bruder würde sich irren, wurde er eines Besseren belehrt. Noch erstaunlicher aber war, dass Benjamin die Ansicht der Jagd durch diverse Labyrinthe mühelos in eine fehlerfreie Aufsicht auf das ganze verschlungene System umwandeln konnte. Conrad wusste diese Hilfe durchaus zu schätzen. In dieser Zeit begann unser mittlerer Sohn auch damit, seine Gedanken zu zeichnen. Da er uns inzwischen offenbar mehr mitteilen wollte, als er verbal hervorbringen konnte, produzierte er Berge von Zeichnungen, auf denen immer Tierfamilien mit drei Kindern zu sehen waren. Über den Köpfen der einzelnen Familienmitglieder schwebten Gedankenblasen, die mit kleinen Bildchen angefüllt waren. Einige seiner Zeichnungen zeigten aber einen wohlproportionierten Jungen, der ringsherum von überaus dichten Blasen voller winziger Comics und Codes eingehüllt wurde. Benjamin kam zwar mit seinen Zeichnungen immer noch nicht zu uns, um sie uns zu präsentieren, aber er ließ es bereitwillig zu, dass wir uns seine gemalten Erzählungen anschauten, und manchmal führte dies sogar zu einem erhellenden, kleinen Gespräch. Oft stellte er über viele Tage hinweg Fortsetzungen der spannenden Geschichten einzelner Tierfamilien her und es war für keinen von uns schwer herauszufinden, welche Figur auf den Werken wen darstellte. So bekamen wir einen begrenzten Eindruck davon, wie Benjamin uns als Familie und unsere Interaktionen wahrnahm.

      Zwei Monate nach Beginn der Sensorischen Integrationstherapie hatte die Therapeutin Jenny Benjamin schon so weit gebracht, dass er problemlos auf sie zuging und bei Übungen, die ihm leichtfielen oder Spaß machten, eine gute Mitarbeit zeigte. Die Tatsache, dass Jenny keinerlei Probleme mit meiner Anwesenheit im Therapieraum hatte, stellte einen wesentlichen Faktor dieser positiven Entwicklung dar. Für mich war das eine äußerst seltene und sehr wertvolle Erfahrung. Fand ich einmal keinen Babysitter für Pascal, so waren die Therapiestunden laut Jennys Aussagen überaus uneffektiv, da Benjamin kaum zu einer Kooperation zu bewegen war. Aus diesem Grund kam es ab und zu vor, dass Jenny auch Pascal in den Therapieraum mitnahm, was dazu führte, dass er seinen Bruder um dessen Therapie glühend beneidete. Im Oktober wandelte sich das bloße Schaukeln in der Hängematte dahingehend, dass Benjamin nun während des Schaukelns versuchte, Säckchen von unterschiedlicher Größe mit den verschiedensten Füllungen in einen Korb zu werfen, an einer Kiste zu ziehen und Gegenstände mit Händen oder Füßen umzustoßen. Für unseren Sohn waren das schon motorische Meisterleistungen und großartige Fortschritte. Im Dezember gab es einen herben Rückschlag, da Jenny wegen ihres Urlaubs und einer Krankheit drei Monate nicht anwesend sein konnte und für uns eine Vertretung organisiert hatte. Diese Vertretung verlor bereits in der ersten Stunde mit Benjamin die Nerven und wollte uns hinauswerfen, da ihr kleiner Patient völlig hysterisch auf die Veränderung reagierte, zu keiner Mitarbeit zu motivieren war und nur wild sowie ziellos im Therapieraum umherrannte. Damit die Therapiezeit nicht völlig ungenutzt verstrich, dirigierte ich Benjamin für den Rest der Stunde in die Hängematte, wo er sich erschöpft und apathisch von mir hin- und herwiegen ließ. An diesem Zustand änderte sich nicht viel im Laufe der kommenden Monate und als Jenny gesund und erholt endlich wieder auftauchte,

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