Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus
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Um die unübersehbaren Erfolge der Ergotherapie zu festigen, führten wir zu Hause möglichst viele der Übungen, soweit dies mit unseren Mitteln möglich war, ebenfalls durch. Der erste Versuch, ein paar einfache Therapiegegenstände zu bestellen, scheiterte allerdings kläglich, da die einschlägigen Lieferanten zu dieser Zeit nicht an Privatpersonen lieferten. Mein Mann Leon gab jedoch nicht auf, telefonierte geduldig herum und fand schließlich einen Händler für Kindergarten- und Therapiebedarf, der uns unter anderem die gewünschte „Kuschelmuschel“ lieferte. Dabei handelte es sich um zwei mit Styroporkügelchen gefüllte Säcke, die mittels eines Reißverschlusses zu einer muschelförmigen Höhle zusammengesetzt werden konnten. Da sich die Styroporkügelchen ideal an jede Körperform anpassen und somit einen leichten, aber gut spürbaren Druck auf alle Körperpartien ausüben, tragen sie zur Verbesserung des vestibulären Raumgefühls und der Tiefenwahrnehmung bei. In der Praxis sah das so aus, dass Benjamin durch die körperliche Basisstimulation beim Benutzen der Muschel sichtlich ruhig und fühlbar entspannt wurde. Fortan kroch er jeden Tag nach der Schule erst einmal für mindestens eine halbe Stunde in diese über alles geliebte Wohlfühlhöhle und fand dort nun auch seinen unverzichtbaren Platz beim Vorlesen oder beim Anschauen eines Videofilmes. Die Kuschelmuschel hatte nur ein Problem: Unsere anderen beiden Kinder liebten sie genauso abgöttisch wie Benjamin. Pascal konnte sich vormittags, wenn Benjamin in der Schule war, darin austoben, aber für Conrad mussten wir mühsam Benutzungszeiten mit Benjamin aushandeln, damit er sich nicht zurückgesetzt fühlte. Viele kleine Spiele wie beispielsweise ein kniffliges Geräusche-Memory, eine selbst befüllte Tastbox oder auch ein im wahrsten Sinne des Wortes tierisches Pustespiel habe ich gebastelt, um uns den Stress des Besorgens zu ersparen und vor allem, weil Benjamin mit Spielen, die auf seine speziellen Interessen abgestimmt waren, viel leichter zu einer Mitarbeit zu bewegen war. Auch diese therapeutisch ausgerichteten Spiele fanden außergewöhnliches Interesse bei Benjamins Geschwistern, was meine Arbeit erheblich erleichterte.
Inzwischen war es nicht mehr zu übersehen, dass Benjamin ein zaghaftes Mitteilungsbedürfnis entwickelte. Nachdem er an einem eisigen Januartag mit Conrad verschiedene Zauberkunststücke eingeübt hatte, kam er zu uns, um sie uns vorzuführen. Normalerweise hatte Conrad seinen Bruder im Schlepptau, wenn er uns etwas präsentieren wollte, woran auch Benjamin beteiligt war. Gerührt stellten wir fest, dass dieses Mal die Initiative von Benjamin ausging, da Conrad uns schon oft mit Zaubertricks unterhalten hatte, sodass er an diesem Sonntag keine Lust dazu verspürte. Der Höhepunkt der kleinen Darbietung bestand darin, dass unser mittlerer Sohn LEGO-Bausteine hinter seinen Ohren verschwinden ließ und wir ihm ansehen konnten, dass er stolz auf seine Leistung war. Hätten wir nicht jahrelang auf solche kleinen Selbstverständlichkeiten warten müssen, wäre dieser Moment mit Sicherheit nicht so kostbar gewesen. Benjamins zartes Sich-Öffnen ermutigte mich, das Spielen mit einem Puppentheater zu probieren. Wir besorgten eine überwiegend rote Stoffbühne, weil Rot seine damalige Lieblingsfarbe war, und Winnie-Puuh-Handpuppen aus weichem Plüsch, da meine beiden jüngeren Kinder diese bezaubernden Figuren und auch die amüsanten Trickfilme liebten. Mit der Aussicht auf köstliche Fliegenpilze aus gekochtem Ei, roter Paprika und Mayonnaise ließ sich Benjamin darauf ein, an dieser Aktivität teilzunehmen. Dabei machte ich eine sehr interessante Beobachtung. Während Pascal und auch Conrad mit viel Fantasie Handlungsstränge erfinden wollten, begnügte sich Benjamin damit, Geschichten aus seinen Kinderzeitungen nachzuspielen. Er war aufgeregt und schwer zu verstehen, aber da ich all diese Geschichten irgendwann schon mehrere Male vorgelesen hatte, erkannte ich sie wieder. Dabei kam es auch vor, dass er Tom und Jerry durch Tigger und Ferkel darstellen ließ. Während meine Randkinder üppige Ausführungen anfingen und dann aber nicht so recht wussten, wie ihre Handlungen denn enden sollten, waren Benjamins Vorführungen kurz, knapp und in sich geschlossen.
Gute Freunde statteten uns wenige Wochen später einen Besuch ab und wurden von Pascal gedrängt, die allabendliche Gute-Nacht-Geschichte zum Besten zu geben. Alle drei Jungen lauschten gespannt, was es mit Ritter Blaubart, seiner Frau und dem rätselhaften, verschlossenen Zimmer auf sich haben könnte, obwohl Conrad das Märchen eigentlich schon kannte. Noch bevor dieses Rätsel durch den Vorleser hätte gelöst werden können, sprang unser quirliger Pascal erregt hoch und verkündete selbstbewusst seine Idee, die Geschichte allein zu Ende erzählen zu wollen. Fast alle waren begeistert von dieser Idee und der Einzige, der es nicht war, nämlich Benjamin, ertrug die plötzliche Planänderung mit bewundernswerter Fassung. Er rannte eine kleine Runde nach Luft schnappend im Kreis und setzte sich dann, für Außenstehende scheinbar ganz ruhig, auf seinen immer gleichbleibenden Vorleseplatz zurück. Pascal gab eine nette, kleine Geschichte zum Besten und überzeugte unsere Freunde wieder einmal von seinem Einfallsreichtum und seiner Redegewandtheit. Als der Vorleser nun zum zweiten Mal versuchte, das Ende des Märchens von Charles Perrault zu Gehör zu bringen, schnellte Benjamin in die Höhe und stellte sich kerzengerade sehr dicht vor unserem Bekannten auf. Mit den Worten „Iie auch“ machte er darauf aufmerksam, dass auch er die Geschichte zu Ende erzählen wollte. Darauf begann er, ohne auf eine Antwort zu warten, das Märchen von Beginn an zu erzählen – mit holpriger, lauter Stimme und noch vielen schwer verständlichen Wörtern. Aber es war keine bloße Nacherzählung des Gehörten, sondern die Präsentation eines sehr opulenten Bildes des Schlosses von Ritter Blaubart. Im Gegensatz zur Originalvorlage, in der die Räumlichkeiten wie folgt beschrieben wurden: „Am Morgen des nächsten Tages kamen die Besucherinnen dort an und begaben sich auf Entdeckungsreise durch die vielen Räume. Sie liefen ungeniert durch Säle und Flure […]“2, klang Benjamins Schilderung wie eine detaillierte Führung durch eine prächtige Sehenswürdigkeit. Er beschrieb alle Zimmer, die vom großen Saal abgingen, und klärte uns über deren kostbares Inventar auf. Da die Benutzung seiner Muttersprache noch immer keine Selbstverständlichkeit für unseren Sohn war und es selten genug vorkam, dass er vor Publikum sprach, ließen wir ihn gewähren, obwohl wir bemerkten, dass sich spätestens nach der Beschreibung des vierten Raumes eine gepflegte Langeweile bei unseren Freunden einstellte. Als er in seinem langen Monolog eine kurze Pause einlegte, nutzte ich die Gelegenheit, um mich nach dem Ende seiner Geschichte zu erkundigen. Sichtbar erleichtert antwortete er knapp: „Und im Nicht-Reingeh-Zimmer war schrecklicher Drache.“ Mir ist an jenem Tag plötzlich klar geworden, wie Benjamins Denken funktioniert. Er hatte vernommen, dass in dem Märchen ein Schloss eine Rolle spielt, und diese verbale Information setzte er sofort in ein Bild eines solchen Gebäudes um. Beim Nacherzählen rief er dieses in seiner Fantasie so facettenreiche Bild auf und gab es in Worten, die wahrscheinlich nicht im Entferntesten an sein schillerndes inneres Gemälde heranreichten, wieder. Zwei Dinge mussten uns dabei zwangsläufig auffallen. Zum einen spielten die handelnden Personen in Benjamins Erzählung nur eine Nebenrolle, im Gegensatz zu Pascal, dessen Protagonisten ein reichhaltiges Gefühlsleben offenbarten. Zum anderen unterlag unser mittleres Kind dem von ihm selbst nicht zu durchbrechenden Zwang, sein ganzes inneres Bild wiedergeben zu müssen. Erst nachdem er durch das für ihn körperlich anstrengende Sprechen und das kräftezehrende Aushalten der Besuchssituation völlig ausgelaugt war, konnte er meine Zwischenfrage nach dem Ende seiner Geschichte als Erlösung aus dieser Situation annehmen. Trotz all dieser Auffälligkeiten war für uns jedes von Benjamin mühsam hervorgebrachte Wort außerordentlich kostbar.
Das große, farbenfrohe Plakat mit der verlockenden Ankündigung des neuen Disney-Films fiel Benjamin während unserer Fahrt zur Therapie auf, worauf er unvermittelt verkündete, dass er ins Kino gehen wolle, um die im Film agierenden Krabbeltierchen „ganz groß“ zu sehen. Das war ein überraschender Wunsch, denn bis jetzt hatte seine Angst vor der Dunkelheit gemeinsame Kinobesuche stets verhindert. In den folgenden Tagen ließen uns die quirligen Helden des Filmes keine Ruhe: Sie tauchten in den Zeitschriften der Kinder auf, sie eroberten die Spielzeugläden und sie waren das favorisierte Gesprächsthema der anderen Kinder in der Schule. Mit äußerst gemischten Gefühlen beschloss ich daher, mich in dieses neuerliche Abenteuer zu stürzen, denn Benjamins glühende Wünsche hatten ihn schon oft über seine eigenen Schatten springen lassen. Ein