Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus

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Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln - Inez Maus

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bereits beim Warten in der relativ kurzen Schlange immer wieder die Flucht ergreifen wollte und deshalb von mir festgehalten werden musste. Pascal, der an diesem Tag ebenfalls zum ersten Mal ein Kino besuchte, hielt sich an meiner anderen Hand fest, wobei er dies nicht aus Angst, sondern eher aus Aufregung und Ungeduld tat. Als ich die Eintrittskarten bezahlen musste, hatte ich keine Hand frei, weil das eine Kind mich nicht loslassen wollte, wogegen ich das andere Kind nicht loslassen konnte, denn direkt vor dem Kino befand sich der Busbahnhof und ich konnte nicht riskieren, dass Benjamin dort hinlief. Schließlich gelang es mir, Pascal an Conrad zu übergeben und mit einer Hand mühsam das Geld aus meiner Brieftasche zu ziehen. Danach suchte ich mit meinen beiden Kleinen die Toilette auf, wo ich sofort von zwei Frauen angegriffen wurde, weil sie der Meinung waren, dass Benjamin nichts auf der Damentoilette zu suchen habe. Was sollte ich denn tun? Ich hatte doch überhaupt keine andere Wahl, deshalb versuchte ich beharrlich, das unerträgliche Gezeter zu ignorieren.

      Insektenspuren verzierten verheißungsvoll die sandfarbenen Wände und die dunkelrote Treppe, welche zum Kinosaal hinaufführte, was es Benjamin enorm erleichterte, diesen Weg zu bewältigen. Am Eingang des Kinosaals stockte er, folgte aber dann zögerlich seinen Brüdern. Vorsorglich hatte ich Randplätze gewählt, falls wir das Kino vorzeitig verlassen mussten. Aber wie würde Pascal reagieren, wenn ich ihn dann mitten aus dem Film reißen müsste? Gedanken über Gedanken hämmerten in meinem Kopf. Die wenigen Minuten bis zum Filmstart verbrachten alle Kinder um mich herum mit aufgeregtem Schnattern, Benjamin jedoch saß kerzengerade auf seinem weinroten, weichen Kinositz und verzog keine Miene. Als das Licht langsam ausging, sprang er auf meinen Schoß und fing an zu weinen. Weil sein Weinen lauter wurde, wollte ich bereits den Saal verlassen, aber dann erschienen die ersten Bilder auf der großen Leinwand und je lauter die Musik spielte, desto leiser schluchzte mein Sohn. Nach einer Weile verstummte sein Weinen und er folgte angespannt den abwechslungsreichen Taten der liebenswerten Leinwandhelden. Wurde der Film zu gruselig, so vergrub er sein Gesicht im Rollkragen meines Pullovers und hielt sich die Ohren zu. Er harrte bis zum Ende des Filmes aus und somit wurde „Das große Krabbeln“ zu seinem ersten Kinoerlebnis. Nach dieser Aktion war nicht nur Benjamin körperlich völlig ausgezehrt, sondern auch ich, und deshalb wünschte ich mir, ich könnte sofort ins Bett fallen, was vollkommen illusorisch war. Zudem bedauerte ich zutiefst, dass ich Pascal nicht mehr Aufmerksamkeit schenken konnte, da auch er an einigen Stellen des Films Trost und Zuspruch gebraucht hätte und zeitweise den Platz auf meinem Schoß beanspruchte, aber Benjamin hing zu fest an mir und gewährte seinem Bruder nur wenige Minuten ein Aufenthaltsrecht. Hätte ich Benjamin in seinen Stuhl gezwungen, dann hätte ich den ganzen Kinobesuch aufs Spiel gesetzt.

      Das positive Kinoerlebnis ließ Benjamin noch ein wenig furchtloser werden, sodass er als Nächstes eine Alien-Ausstellung in der Sternwarte besuchen wollte. Diese Wanderausstellung, welche Requisiten aus den verschiedensten Science-Fiction-Filmen präsentierte, war nur für eine Woche zu besichtigen und dementsprechend groß fiel der Andrang aus. Nach einer schier endlos scheinenden Wartezeit hielt ich die begehrten Tickets in der Hand und wir strebten voller Neugier dem Eingang zu. Schwere, schwarze Vorhänge mussten von mir beiseitegeschoben werden, um dahinter einen Blick auf große Finsternis zu erlangen. Ein paar verschiedenfarbige Neonlichter blitzten rhythmisch auf und düster grollende Geräusche waren zu vernehmen. An dieser Stelle verließ Benjamin schlagartig sein Mut und er war weder vorwärts noch rückwärts zu bewegen. Er versteifte sich zusehends. Zu unserem Leidwesen bestanden die Kassenschlange und die Strecke zum Eingang aus mit Metallgittern eng abgesteckten Wegen, sodass höchstens zwei Personen nebeneinander stehen konnten. Benjamins Zögern verursachte deshalb sofort einen Stau. Die Ausstellung wurde überwiegend von Vätern mit ihren Söhnen besucht, was dazu führte, dass Beschimpfungen wie „Muttersöhnchen“, „Feigling“ und „Weichei“ über uns ausgeschüttet wurden. Viel jüngere Kinder als Benjamin waren vor uns ohne sichtbare Furcht erwartungsvoll durch diesen Vorhang geschlüpft. Die offene Feindseligkeit der hinter uns Wartenden sowie ihr schadenfrohes Gelächter über Benjamins Angst zeigten mir, dass es keinen Sinn hatte, einen Vermittlungsversuch zu unternehmen. Ich begab mich in die Hocke, umklammerte meinen Sohn fest und versuchte, mit ihm zu reden. Die sich unsanft vorbeidrängende Besuchermenge steigerte durch massive, grobe Zusammenstöße das Unwohlsein von Benjamin bis ins Unerträgliche. Er zitterte, weinte und rief immer wieder verzweifelt: „Will rein, will rein!“, war aber gleichzeitig zu keiner Bewegung in irgendeine Richtung fähig. Ich hatte keine Idee, was ich als Nächstes tun könnte, und die Minuten schienen sich wieder einmal zu Stunden zu dehnen. Conrad schlug ich vor, ohne uns hineinzugehen, und ich vereinbarte einen Treffpunkt vor der Sternwarte, falls Benjamin gar nicht hineinzubewegen wäre, aber Conrad wollte uns nicht allein lassen. Am liebsten hätte ich uns alle von diesem Ort weggebeamt, vielleicht auf eine einsame Insel, wo ich dann stundenlang Benjamin dabei zuschauen könnte, wie er feinkörnigen Sand durch seine Finger rieseln lassen würde und nichts, rein gar nichts, tun müsste.

      Als ich gerade darüber nachdachte, warum all diese Menschen mit ihren problemlosen Kindern absichtlich oder auch unbewusst so gemein zu uns waren und niemand außer mir und Conrad die Sorgen dieses kleinen Menschleins in meinen Armen zu beachten schien, nahm Benjamin ruckartig meine Hand, wischte damit seine Tränen ab und zog mich wortlos zu dem schweren Vorhang. Er schaute sogar noch einmal zurück, um sich zu vergewissern, dass Conrad uns folgte. Voller ängstlicher Anspannung und mit rot geweintem Gesicht betrat er nun wacker die mystischen Räume. Obwohl Benjamin zu dieser Zeit weder die „Star Wars“-Filme noch die „Enterprise“-Fernsehserie kannte, wurde er doch magisch angezogen von den prächtigen Kostümen, geheimnisvollen Masken, funkelnden Laserschwertern … Zu einer lebensgroßen Figur von Neelix aus der Enterprise-Fernsehserie „Raumschiff Voyager“ sagte er: „Der da kocht immer.“ Und mir ist bis heute unklar, woher er das wissen konnte, denn seine Lesefertigkeiten waren in der ersten Klasse noch nicht sehr ausgeprägt. Oder hatte er vielleicht doch das Schild gelesen? Noch weitaus überraschter war ich von Benjamins Bemerkung zum Alien-Körper aus Roswell: „Der da in Wüste gefunden.“ Den Mut meines Sohnes belohnte ich am Ausgang mit einer schaurig schönen Alien-Figur aus Plüsch, welche sich heute immer noch in seinem Besitz befindet. Dieser Ausstellungsbesuch stellt wohl auch die Geburtsstunde von Benjamins außergewöhnlichem Interesse an Filmen und Büchern mit Science-Fiction-Themen dar, was uns heute nicht mehr verwundert, denn: „Viele Menschen mit Autismus sind Anhänger der Fernsehserie Raumschiff Enterprise. Ich bin seit der ersten Folge ein Fan. Als ich aufs College ging, hatte die Serie großen Einfluß auf mein Denken, da jede Folge der Originalserie eine Moral hatte. Die Personen hatten eine Reihe fester moralischer Regeln zu befolgen, die von der Vereinigten Sternenförderation ausgegeben worden waren. Ich identifizierte mich besonders mit dem logischen Mr. Spock, da ich mich seiner Art zu denken vollkommen anschließen konnte.“3 Ähnlich wird Benjamin in ein paar Jahren beim Konsum dieser und verwandter Serien empfinden.

      Conrad war ein Kind, welches seine Sachen immer gern überall ausbreitete, und so ließ er an einem gewittrigen Sonnabend in den Osterferien einen Ordner, in den er gerade seine Schulsachen abheften wollte oder besser sollte, auf Benjamins Bett liegen, weil ihm wieder einmal eingefallen war, dass er etwas trinken mochte. Benjamin war ein Kind, welches sich immer auf Stühle oder Polstermöbel fallen ließ und sich beinahe mit einem Hechtsprung ins Bett begab, was wohl beides mit seiner ungeschickten Motorik zusammenhing. An jenem unglücklichen Tag vergaß Conrad, die Klammern des Ordners zu schließen, und Benjamin, dessen Computerpause gerade begonnen hatte, sprang auf sein Bett, um etwas zu lesen. Ein markerschütternder Aufschrei ließ uns herbeistürzen. Unser mittlerer Sohn war genau in die Klammern des Ordners geraten und sein linkes Bein blutete fürchterlich, weil eine neun Zentimeter lange Risswunde sich in sein Schienbein geschnitten hatte. Wir mussten blitzschnell eine Entscheidung treffen, denn das austretende Blut ließ Benjamin bereits hysterisch werden. Da die vertraute Kinderärztin keine Sprechstunde hatte, konnten wir nur die Notaufnahme aufsuchen, wo die Wunde dann geklammert oder geklebt werden würde. Oder aber wir nahmen eine Narbe in Kauf und versorgten die Wunde selbst. Aufgrund unserer äußerst schlechten Erfahrungen mit fremden Ärzten in ungewohnten Situationen entschieden wir uns für Letzteres. Seitdem ziert eine Narbe das Bein unseres Sohnes, was ihn aber nie wirklich gestört hatte, da er in der Folgezeit feststellte, dass viele Kinder solch bleibende Eindrücke auf ihren Körpern aufweisen. Die Hechtsprünge

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