Besser als nix. Nina Pourlak
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Klar.
Carsten ist schon weg, vorne am Tresen des Campinganhängerwürstchenbüdchens wird er von seinen Freunden, den übrigen Sportskanonen, begrüßt. Sie sprechen über ihre alten Triumphe, als wären sie erst ein paar Tage her und nicht so lange, wie ihre wuchtigen Bäuche mittlerweile schon in die Breite gewachsen sind.
Und über Tabellenstände, Spielergebnisse, irgendwelche Pokale und Lokalderbys. Veränderungen in der Bundesliga, Trainerwechsel oder Abstiegskämpfe werden hier nahezu philosophisch ergründet. Ich brauch mich gar nicht dazuzustellen – das ist für mich wie eine Fremdsprache. Tags darauf berichtet Papa dann seinen Fußballjungs darüber, was er für sie entsprechend daraus ableitet. Wenn er ihnen dann seine neuesten Lebenserkenntnisse in diesem Fußballerlatein verschlüsselt vermittelt, sieht er manchmal wieder so jung aus, als läge nicht dieser graue Schleier über ihm. Dann hat er für Momente so ein strahlendes Gesicht wie früher. Bei mir kriegt er das nie ...
Aber die gucken ja auch alle so andächtig, als ob der liebe Gott persönlich vor ihnen stehen würde ... Weil er hier so was wie eine lebende Legende ist: der Typ, wegen dem Bayern München mal in Schwarzbeck verloren hat. Schon dass die hier antreten mussten, ist seinerzeit schon eine Sensation gewesen. Aber dass sie auch noch zwei zu eins verloren haben – beide Tore geschossen von Papa persönlich – Wahnsinn. Einer von hier – da war Boris Becker mit seiner Hechtrolle auf dem Rasen von Wimbledon nix dagegen. Deswegen haben sie Carsten hier auch auf Lebenszeit verpflichtet. Und selbst Uwe Seeler war zu Besuch da.
Das ist zwar schon über zwanzig Jahre her. Und die Bayern sind damals auch mit ihrer B-Mannschaft angetreten, aber daran erinnert sich ja jetzt sowieso keiner mehr: Was zählt, ist das Ergebnis. Auch so ein Spruch von meinem Vater.
Ich beschließe, quer durchs Feld zu laufen.
Es wird langsam dunkel. Sonnenblumen säumen meinen Weg.
Autohaus – ich hab noch nicht mal meinen Führerschein bis jetzt ... oder bei der Post ... Jeden Morgen auf dem Fahrrad unterwegs, gejagt von Schäferhunden und einsame Hausfrauen, und zur Weihnachtszeit Tausende Online-Bestellpakete durchs Dorf karren. Oder hinterm Schalter, Briefmarken abzählen mit Kundenkontakt: »Haben Sie sich denn schon mal Gedanken über das Postbankkonto gemacht?«
Bin ich das? Ist es das? Vierzig, fünfzig Jahre?
Und dann ein Platz hier, auf dem Friedhof, und ein Spruch auf dem Grabstein: I did it my way.
Seit Du nicht mehr da bist, gibt es keine Blumenbeete mehr vor der Tür. Man kann alles überall liegen lassen. Es gibt keine Abendbrotzeit oder Frühstückszeit, kein zusammen am Tisch sitzen bleiben oder Brote für die Pause mitnehmen. Freunde, die vorbeikommen, finden das sogar cool ... Ich vermisse insgeheim, wie es früher war. Zu Weihnachten hab ich sogar Plätzchen gebacken, deswegen. Ziemlich mädchenmäßig, ich weiß. Kam auch nicht so gut an.
Ich kann mich gar nicht an die großen Sachen mit Dir erinnern. Z. B. »meine Einschulung«. Oder der letzte Geburtstag, als Du noch da warst. Ich habe eher lauter kleine Momente im Kopf, Zipfel von Geschichten, Puzzle-Teile, die ich noch festhalten konnte. Ich frage mich, wie das Gedächtnis sich die Sachen aussucht, die es sich merkt. Hoffe, dass ich ein paar Teile für immer in meinem Kopf behalte. Dass ich mit geschlossenen Augen Dein Bild aufrufen kann, in Gedanken.
Aber das fällt mir sogar bei Papa manchmal schwer – obwohl der ja die ganze Zeit da ist und auch immer gleich aussieht. Wahrscheinlich Verdrängungsmechanismus. O.k., das ist gemein, aber die einzige gemeinsame Unternehmung mit ihm ist mittlerweile das Fußballtraining mit zwanzig sportlicheren Typen und der Moment vor dem Imbiss danach. Bestimmt bring ich es deswegen nicht übers Herz, da auszusteigen. Wenn er heimkommt, ist es längst nach zwölf, und sportlich war vor allem sein Trinkrekord. Der Wagen bleibt stehen, kurz hinter dem Bolzplatz.
Ich geb’s zu. Eigentlich fehlt mir was anderes.
Morgens ist mein Gesicht lilablau angelaufen auf einer Seite, ums Auge herum sieht es wie geschminkt aus – Tokio Hotel ist gar nix dagegen. Wirkt ziemlich verwegen. Die Berufsberatung wird es hoffentlich nicht stören. Oder sie empfehlen mir gleich einen Job als Türsteher oder Erschrecker in der Geisterbahn. Was soll’s – Opa hat immer gesagt: »Der Gesamteindruck zählt.« Ein schwarzes T-Shirt und die schwarzen Wildlederschnürer zur engen Jeans, wenn ich nicht etwas für den Style in diesem Ort tun würde, dann würde echt alles vor die Hunde gehen.
Es reicht schließlich, dass einer in der Familie mit der Jogginganzuguniform unterwegs ist. Das ist meine Form der Rebellion. Irgendwann werden sie mich hier vielleicht verstehen, aber dann bin ich wahrscheinlich schon ganz weit weg. Über alle Berge ...
Ach ja ... Noch nicht mal die gibt es hier. Berge.
2 schwarzsehen für anfänger
Fahrradfahren ist was Tolles, eine der wenigen Tätigkeiten auf der Welt, über die ich sagen würde: Das macht mich richtig glücklich. Zum Beispiel da, wo man ganz nah am Meer langfahren kann, sodass man es schon richtig riecht. Wenn dann der Gegenwind pustet und ich voll in die Pedale treten muss, kann ich meine Gedanken fliegen lassen. Dann ist es genau hier perfekt.
Von Schwarzbeck nach Kiel ist es ‘ne ganz schöne Strecke. Genauer gesagt 20,4 km – laut Navigationsgerät. Trotzdem – besser frei auf dem Fahrrad, als im vollgestopften Bus gleich zu Beginn des Tages den ganzen Mutanten zu begegnen.
Draußen vor dem grauen Klotz von Gebäude warten sie schon: die Menschen, mit denen ich den bisher wichtigsten Abschnitt meines Lebens verbracht habe, meine Mitschüler. Aber nur die, die immer noch keinen Ausbildungsplatz ergattert haben, die absolut keinen Plan haben, so wie ich. Freakshow.
Manchmal würde ich mich gerne hinter einer dicken, schwarzen Sonnenbrille verschanzen wie ein Hollywoodstar. Zum Beispiel jetzt.
Dann meine gute, alte, immer um alles und jeden besorgte Klassenlehrerin, Frau Frevert, nur echt mit brauner Ledertasche unterm Arm und Hosenröcken an den Beinen. Hässlich und hinreißend zugleich. Und wer ist das da neben ihr? Bestimmt die neue Referendarin – die eigentlich erst mit dem nächsten Schuljahr anfängt, aber jetzt anscheinend trotzdem schon mal da ist. Wahrscheinlich wurde ihr das empfohlen, zum »Reinschnuppern« ...
Ich weiß, ich sollte nicht so zynisch sein. Ich kann nichts gegen diese Menschen hier sagen. Sie haben mich nie gemobbt, unterdrückt oder ungerecht behandelt. Ich habe ihnen nichts vorzuwerfen. Trotzdem: Am liebsten würde ich weiterfahren. Immer weiter. Und dann einfach beschließen irgendwo zu bleiben, spontan. In einem Dorf mit einem lustigen Namen. Oder einer Stadt mit einem blauen Haus neben einem See.
Ob das ginge – einfach einen Ort zu suchen, der einem gefällt, und dann dortzubleiben? Und wenn ich einfach so abhauen würde?
»Tooooom!«
Zu spät. Entdeckt. Stehen bleiben.
»Na, träumst du etwa?«
Die neue Referendarin schmunzelt mich an und trägt dabei Chucks. Na so was. Wie heißt sie noch mal? Bestimmt Steffi. Das war so, früher. Steffi Graf. Jetzt heißen die Mädchen Anna, Lea und Sarah. Und die Typen Lukas, Paul und Tom, so wie ich. Hab ich bei www.beliebte-vornamen.de nachgeguckt. Da kann man sich die Vornamens-Hitlisten bis 1890 oder so reinziehen. Aber hier bei uns auf dem Dorf sieht’s nicht so aus wie in der aktuellen Top Ten, da stehen auch die größten