Besser als nix. Nina Pourlak
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Sie reicht mir einen Bogen. Ich linse auf die Überschrift, bin auf alles gefasst.
Auf fast alles.
Bestattungsfachkraft
Die Ausbildung zur Bestattungsfachkraft ist in Deutschland seit dem 1. August 2003 möglich. Die Ausbildungsdauer beträgt 3 Jahre und wird in Bestattungsinstituten und in Friedhofsverwaltungen durchgeführt. Die praktische Ausbildung wird im Betrieb durchgeführt und umfasst unter anderem die Bergung, Überführung, Versorgung, Einkleidung und Einbettung von Verstorbenen. Grabtechnik, Warenkunde, Dekoration, Beratungsgespräch und Trauerpsychologie werden in zwei überbetrieblichen Lehrgängen im Bundesausbildungszentrum der Bestatter in Münnerstadt gelehrt.
Im kaufmännischen Teil der Ausbildung werden das Beratungsgespräch mit den Angehörigen, die Organisation, Planung und Kontrolle der Bestattung, die Kalkulation und Rechnungslegung, aber auch die Beurkundung eines Sterbefalls beim Standesamt sowie alle nach einem Sterbefall abzuwickelnden Formalitäten vermittelt. Dazu gehören zum Beispiel das Abmelden eines Verstorbenen bei den Krankenkassen und den Rentenversicherungen.
Puh. Puh. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen.
»Tom?«
»Tom, hallo, alles O.k.? Das ist ja erst mal nur eine Empfehlung. Du kannst ja auch was anderes machen. Aber das hat so gut gepasst, ist abwechslungsreich und«, Sarah reicht mir noch zwei ausgedruckte kleine Zettel, »ich hab auch schon zwei Ausbildungsplätze entdeckt hier in der Umgebung, wo du dich noch bewerben könntest für dieses Jahr.«
Ich nicke. Na, dann passt ja alles perfekt.
»So, wer ist als Nächstes dran?«, fragt die Dame von der Berufsberatung schon und drängt mich hinaus.
Draußen fragen Paul und Max gleich: »Und, na, was wirst du jetzt?«
Ich sage nix. Das kann man doch keinem erzählen. Auch Papa nicht. Schon gar nicht. Der denkt dann gleich wieder, mit mir stimmt was nicht, wenn die mir hier so was empfehlen.
Bevor ich zurückfahre, geh ich lieber in Kiel noch ins Solarium. Zum Sonnenstudio Palme. Ich habe in letzter Zeit ganz schön Augenringe. Vielleicht hat es auch daran gelegen ...
Solarium hab ich auch von Mike gelernt. Ohne ihn wäre ich doch niemals ins Solarium gegangen. Schon allein wegen dem Krebs. Erst habe ich immer draußen vor der Kabine gewartet, bis er fertig war, hab ihn sogar aufgezogen damit, aber dann wollte ich es irgendwann doch ausprobieren. Ich mag eigentlich gar nicht mal am liebsten daran, wie ich danach aussehe, das ist mir fast egal, ich finde am besten, wie schön warm es dort ist.
Ich stell mir dann immer vor, ich wäre verreist. Es ist eine Ewigkeit her, dass ich in echt mal verreist war. Mit der ganzen Familie, früher. Vater, Mutter, Kind. Meer, Sonne, Strand. Vielleicht zehn Jahre oder so ist das her, und wenn ich das schon sagen kann, dann bedeutet es, es ist mehr als mein halbes Leben her.
Jetzt bietet mir Carsten nur noch manchmal an, mich ins Trainingslager mitzunehmen, in den Ferien. Aber das ist ja keine Erholung oder so was – wer als Zwerg wie ich zwischen Hammerwerferinnen, Boxern und Bobfahrern in einem Leistungszentrum Urlaub machen will, der muss schon ein ziemliches Selbstbewusstsein haben.
Auf der Fahrt zurück, kurz vor Schwarzbeck, treffe ich ausgerechnet auf die Referendarin, Sarah. Wir beide sind anscheinend die einzigen Fahrradfahrer der ganzen ausbildungsplatzlosen Oberstufe. Sonst ist mir unterwegs jedenfalls keiner begegnet.
Ihr klappriger Drahtesel hat einen Platten. Das Bike sieht sowieso aus, als ob sie es irgendwann mal zum Kindergeburtstag geschenkt bekommen hat, mit buntem Speichenschutz und einer großen Klingel. Fehlen nur noch die Stützräder.
Sie fragt mich, wo ich denn jetzt grad herkomme, aber natürlich sag ich nichts vom Solarium.
Unter der neuen Bräune werde ich rot. Ich glaube, ihr Hinterreifen ist richtig kaputt, und wir schließen ihr Rad schließlich an einen Zaun an, irgendwo mitten auf der Strecke. Es kommt mir vor als würden wir es wie einen hinkenden Wanderkameraden kurz vor dem Berggipfel im Stich lassen. Eigentlich wollte ich vorschlagen, dass wir beide schieben. Hatte gehofft, mich so noch ein bisschen mit ihr unterhalten zu können.
Aber es kommt noch viel besser: Sie will sich allen Ernstes vor mich auf mein Rennrad setzen, auf die Stange, noch bevor ich mich darauf einstellen kann, springt sie wie selbstverständlich auf, und da ist sie mir so nahe, dass ich kaum fahren kann, geschweige denn mich locker und unbeschwert mit ihr unterhalten. Das ist echt ein bisschen zu viel für mich.
Sie kriegt das anscheinend gar nicht mit, dass das eher ein ungewöhnlicher Platz ist für ‘ne Lehrerin oder so – was weiß ich, Frau Frevert würde das jedenfalls nicht machen, aber sie hält sich am Lenker fest, riecht nach Pfirsich und erzählt ganz entspannt, dass dieses Fahrrad noch aus ihrer Jugend stammt, wie auch ihr altes Pferd und alle Sachen in ihrem Zimmer, die sie hier zurückgelassen hat, bei ihren Eltern, als sie nach Berlin gezogen ist, mit neunzehn.
Mit blauen Haaren und kaputten Jeans und einer Gitarre – genau, wie man sich das vorstellt, wenn man zum ersten Mal richtig von zu Hause weggeht. Abhauen mit Ansage. Und dass es seltsam sei, jetzt wieder in diesem Zimmer zu wohnen und dieses Leben aufzunehmen, als hätte es gar keine Lücke gegeben, und als sei sie immer noch dasselbe junge Mädchen, das damals aufgebrochen ist, ungefähr in meinem Alter. Sie guckt versonnen vor sich her, während ich das Rad balanciere.
Und dann sei hier auch noch alles so überschaubar und ständig würden einem alle Ortsbewohner über den Weg laufen und nach der Familie fragen und wie es einem geht und warum man damals denn weggegangen wäre und warum man jetzt zurückgekommen sei und so. Total ungewohnt, ergänzt sie.
Ich hab irgendwie den Eindruck, als ob sie eigentlich mehr zu sich selbst spricht, als mir das alles zu erzählen. Als ob sie so voll von ihren ganzen Gedanken vom ersten Schultag und so ist, dass sie es einfach sofort loswerden muss, egal bei wem, um nicht zu platzen.
»Ich will auch so schnell wie möglich abhauen hier«, verrate ich ihr. Hab ich noch keinem so erzählt. »Manchmal weiß ich gar nicht, was ich hier soll, ich hab immer das Gefühl, das Leben würde anderswo passieren. Vielleicht in Berlin?«
Ich lenke das Gespräch in Richtung Hauptstadt, damit sie was zu erzählen hat. Dachte, das wäre geschickt. Aber Fehlanzeige. »Berlin. Da ganz bestimmt nicht!«, wehrt sie abrupt ab, ist auf einmal hellwach und macht so plötzlich Anstalten, vom Rad zu springen, dass ich fast das Gleichgewicht verliere.
An der nächsten roten Ampel verabschiedet sie sich hastig, ohne mich überhaupt noch mal richtig anzusehen, und verschwindet. Seltsam.
Zu Hause fällt mir auf, dass ich immer noch die zerknüllten Zettelchen in der engen Jeanstasche habe. HEIMKEHR BESTATTUNGEN und DISCOUNT BESTATTUNGEN. Vielleicht sollte ich doch anrufen? Ich werfe noch mal einen Blick auf das Berufsprofil. »Einbettung von Verstorbenen?« Brrrhh.
Wenn es noch etwas gibt, was mich mehr schockiert hätte als Kaufhaus-Detektiv, Fahrkartenkontrolleur oder Gerichtsvollzieher, dann ist es sicherlich das. Tote anfassen. Nur mit »Hinterbliebenen« zu tun haben. Jeden Tag von Neuem Abschied nehmen. Niemals würde ich das machen. Echt nicht. Auf keinen Fall.
Ich schalte den Fernseher ein. Privatfernsehen. »Drei Kandidaten – ein Job« läuft da. Drei sendungsbewusste Anwärter kämpfen um einen Job, um den sie sich vermutlich auch