Das Attentat auf die Berliner U-Bahn. Horst Bosetzky
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Читать онлайн книгу Das Attentat auf die Berliner U-Bahn - Horst Bosetzky страница 12
»Wen meinst du damit?«
»Diesen Siemens. Er wird dich in den nächsten Tagen heimsuchen. Ich beneide dich nicht.«
Berthold Blumenthal war mit Leib und Seele Beamter. Für ihn stand fest, dass jeder Mensch von Natur aus ein Tier war, das gezähmt werden musste – und dies schaffte nur ein starker Staat mit seinen Gesetzen und einem Apparat, der imstande war, diese Gesetze auch durchzusetzen und die zu bestrafen, die gegen sie verstießen. Aber noch etwas hatte der Staat mit seinen Beamten zu leisten: die Sorge für die Bürger, die im Leben zu kurz gekommen waren oder für ihre Arbeit zu wenig Lohn bekamen. Das war Blumenthals soziale Ader, und nicht umsonst hing er sozialdemokratischen Werten an, ohne sich indes offen zur Sozialdemokratie zu bekennen – wollte er doch auch Karriere machen. Er war kein ausgesprochener Gegner der Monarchie – schließlich stabilisierten Kaiser und König die deutsche Gesellschaft –, aber eine Republik mit demokratisch gewählten Führern hätte er ihr allemal vorgezogen. Seine klammheimliche Sympathie galt der Pariser Kommune, gleichzeitig hatte er aber auch Angst vor jeder radikalen Umwälzung. Jede legal zustande gekommene Hierarchie war eine heilige Sache für ihn, und was auch immer sein Vorgesetzter von ihm verlangte, er führte es aus, ohne zu räsonieren, sofern es nicht gegen die Gesetze verstieß. Anders konnte eine Bürokratie nicht funktionieren.
Er war im Jahre 1840 im havelländischen Nauen als Sohn des Stadtkämmerers geboren worden und hatte nach seiner Zeit beim Militär in Berlin mit heißem Bemühen, aber wenig erfolgreich versucht, Architektur zu studieren. Nach einem kräftigen Donnerwetter seines Vaters war er schließlich zur Jurisprudenz gewechselt, ohne jedoch die geringste Affinität zum Amt des Richters oder des Staatsanwalts zu entwickeln, auch Advokat mit eigener Kanzlei wollte er nicht werden. Ein Studium der Nationalökonomie wäre ihm lieber gewesen, aber das hätte sein Vater nicht unterstützt. Dessen Kontakte hatten ihm schließlich zu einer Planstelle bei der Berliner Magistratsverwaltung verholfen. Nach einer gewissen Rotation zu Beginn seiner Laufbahn war er schließlich als Referent im Stadtbauamt gelandet und galt als rechte Hand von James Hobrecht.
Verheiratet war er mit Magdalena, der Tochter eines evangelischen Pfarrers. Es war eine gute Ehe, obwohl seine Frau ihm ab und an ein wenig zu sehr frömmelte. Vier Kinder hatten sie, drei Knaben und ein Mädchen, ihre Elisabeth, das Nesthäkchen.
Sie wohnten in einem alten, aber gerade renovierten kleinen Haus in der Kurstraße, das ihnen von einer Tante vererbt worden war.
Wie so oft kam auch an diesem Abend sein Bruder zu Besuch. Theodor, zwei Jahre älter als Berthold, war Redakteur von Beruf und hatte sich in den letzten Jahren mehr und mehr der Politik verschrieben. Als junger Mann hatte er sein Elternhaus verlassen, um zur See zu fahren. Alles war ihm zu eng gewesen und drohte ihm den Atem abzuschnüren. »In Nauen das Grauen!«, hatte er ausgerufen. Bald hatte er aber die Erfahrung machen müssen, dass ein Landarbeiter in Preußen, so elend dessen Existenz auch sein mochte, immer noch besser lebte als ein Matrose auf einem Segelschiff. Wir werden gehalten wie Galeerensklaven, schrieb er an seinen Bruder. In New York stahl er sich dann von Bord, um sein Glück in den Vereinigten Staaten zu machen. In einer deutschen Tischlerei in Milwaukee stieg er auch schnell vom Hilfsarbeiter zum Prokuristen auf, schaffte es aber nicht, sich bei Beginn des Bürgerkrieges vom Wehrdienst freizukaufen, und flüchtete über die Grenze nach Kanada.
Nach Preußen zurückgekehrt, schloss er sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an, die 1869 in Eisenach unter der Führung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründet worden war. Lange Zeit machte man Front gegen Ferdinand Lassalles Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, stimmte aber im Mai 1875 in Gotha doch für die Vereinigung beider Parteien zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Theodor Blumenthal brachte es aufgrund seiner organisatorischen Fähigkeiten und seiner rhetorischen Begabung bald zum Funktionär und Abgeordneten. Am 19. Oktober 1878 aber billigte der Reichstag mit 221 gegen 149 Stimmen das von Kaiser Wilhelm I. erlassene »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«. Jeder, der verdächtigt wurde, mit den Sozialdemokraten zu sympathisieren, konnte verfolgt und verhaftet werden. Die neun sozialdemokratischen Abgeordneten durften zwar ihr Reichstagsmandat weiterhin ausüben, der Partei waren jedoch alle Versammlungen verboten.
Theodor Blumenthal war heute so fröhlich, dass sein Bruder aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam.
»Du, du wirst lachen, aber die Arbeit im Untergrund macht Spaß. Hier, lies das mal!« Er schob Berthold einen engbeschriebenen Bogen hinüber.
»Was ist denn das?«
»Ein Polizeibericht.«
»Wie kommst du denn an den?«
»Man hat so seine Beziehungen.«
Berthold Blumenthal überflog den Text.
Was die Organisation der Sozialisten anbelangt, so werden hier täglich an den verschiedensten Orten, in Privatwohnungen, Werkstätten, auf Spaziergängen, in Schanklokalen, oft sogar in dunklen Räumen, kleine Zusammenkünfte von sechs bis sieben Personen abgehalten, bei denen Mitteilungen und Anweisungen von den bald hier, bald dort erscheinenden Führern gemacht resp. erteilt werden. Man errichtet Lesezirkel, Gesangsvereine, arrangiert Tanzkränzchen. Alles zu dem Zweck, um unter der harmlosen Maske einer geselligen Unterhaltung ernste Beratungen über Parteiangelegenheiten pflegen zu können.
»Wie findest du das?«, fragte Theodor Blumenthal.
»Bebel hat recht, das Sozialistengesetz wird euch entscheidend stärken.«
Die illegal gewordene Partei hatte sich schnell den neuen Bedingungen angepasst. Die Organisationspyramide war nur unsichtbar geworden, es gab sie aber dennoch. Man traf sich zumeist in den Hinterzimmern von Gaststätten, deren Wirte als zuverlässig galten.
»Das läuft alles bestens«, erklärte Theodor Blumenthal. »Schwierigkeiten haben wir nur, wenn eine Vollversammlung der Vertrauensleute ansteht, eine Corpora, wie wir das nennen, denn das sind zu viele Leute für ein Kaffeekränzchen oder eine Billardrunde.«
Ihr Dialog wurde abrupt unterbrochen, als im Wohnzimmer der Gong geschlagen wurde. Sie sprangen auf, denn Magdalena ließ nicht mit sich spaßen, wenn jemand zu spät zu einer Mahlzeit kam. Die drei Knaben saßen bereits ordentlich aufgereiht am Tisch, während die Köchin dabei war, die Suppe aus der Terrine zu schöpfen und auf die Teller zu verteilen. Das Baby lag in seinem Bettchen und schlief.
Magdalena sprach das Tischgebet, dann konnte munter drauflosgeplaudert werden, obwohl wegen der Kinder bestimmte Themen ausgeschlossen waren, etwa die Verhaftung einiger »lüderlicher Dirnen«, die bei der Ausübung ihres Gewerbes ihre Freier bestohlen hatten.
Theodor, der unverehelicht war, berichtete vom Schaufrisieren der Berliner Friseur- und Barbierinnung im Buggenhagener Kaisersaal. »So manche Barbierstube dient der Partei als geheimer Treffpunkt, und so ist es kein Wunder, dass ich eingeladen worden bin. Was mich aber am meisten begeistert hat, waren nicht die preisgekrönten Frisuren der Damen, sondern die Büste des Kaisers: Die war nämlich aus Seife geformt. Ich hatte die ganze Zeit gehofft, dass … Aber lassen wir das!« Mit Blick auf die Knaben und seine Schwägerin verbot er sich, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen.
Magdalena Blumenthal stieß dennoch ein warnendes Hüsteln hervor und zitierte aus dem Brief des Paulus an die Römer den Anfang des 13. Kapitels: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung;