Brennpunkt Ukraine. Christian Wehrschütz

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Brennpunkt Ukraine - Christian Wehrschütz

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der Gesetzgebung, der Kultur und des Sozialen (und in anderen Bereichen) die örtlichen Organe selbständig lösen können, und ihnen diese Zuständigkeiten verfassungsrechtlich übergeben. Die zentrale Regierung soll nicht das entscheiden, was die Regionen selbst lösen müssen. Sie sollen sich selbst darum kümmern. Das ist das Erste. Das Zweite: Man soll keine Leute aus dem Zentrum in die Regionen schicken. Die Regionen sollen das selbst entscheiden, sie wissen es besser und sollen selbst wählen. Die zentrale Regierung kann nur die Bedingungen dafür schaffen, dass sich alle Regionen erfolgreich und demokratisch entwickeln. Es gibt keinen anderen Weg.

       Bedeutet das die Dezentralisierung des Landes?

      Eine vollständige Dezentralisierung, das ist das Erste. Und die Kader … Ich wiederhole es noch einmal, die Leute müssen ehrlich und verantwortungsbewusst sein, und dafür müssen die Regionen diese Leute selbst wählen können. Warum soll der Präsident den Gouverneur von Donezk ernennen? Sie sollen ihn selbst wählen und selbst die Verantwortung tragen. Das ist der erste und der wichtigste Weg. Dann werden wir sagen können: „Habt ihr die Befugnisse erhalten? Ihr habt sie nicht bewältigen können? Dann ändert die Regierung selbst, aber gegenüber Kiew dürft ihr keine Ansprüche erheben, denn Kiew hat diese Regierung nicht ernannt.“

       Wie wird der Status der russischen Sprache in der Ukraine sein?

      Es wurde ein Gesetz über die Sprachen in der Ukraine verabschiedet, es heißt auch so. Dieses Gesetz sieht vor, dass die ukrainische Sprache die Amtssprache ist, und all die Regionen, wo Menschen unterschiedlicher Nationalitäten leben (Russen, Ungarn, Bulgaren, Polen etc.), dürfen die regionale Sprache benutzen, falls sie einen Bedarf sehen. Und der Staat soll ihnen dabei helfen.

      Herr Präsident, während des Zerfalls der Sowjetunion, wann ist Ihnen zum ersten Mal eingefallen, dass man jetzt eine unabhängige Ukraine begründen kann? Wichtig ist, dass es einen Putsch in Moskau gab. Ich habe mit dem letzten amerikanischen Botschafter, Jack Matlock gesprochen, und er sagte, dass am Anfang des Zerfalls viele Menschen nicht geglaubt und sich darüber keinen Kopf gemacht hätten, dass man die Unabhängigkeit in der Ukraine erringen könnte. Wann haben Sie gedacht: „Jetzt ist es möglich!“?

      Ich fing an, darüber nachzudenken, als ich sah, dass die zentrale Moskauer Regierung das Land nicht mehr regiert. Gorbatschow regierte nicht mehr. Er hatte keine Befugnisse mehr. Gorbatschow hatte die Macht verloren. Er hatte die Partei verloren, er hatte die Möglichkeiten verloren, sich auf jemanden stützen zu können. Und dann habe ich gesehen, dass man aus der Sowjetunion austreten muss, um die Ukraine zu retten. Wenn wir ein Teil der Sowjetunion bleiben, so dachte ich mir, dann wird der Konflikt, der dort unausweichlich stattfinden wird – denn er fing bereits an –, wie die Titanic enden, und die Ukraine wird ganz nah dran sein. Die Titanic ist gesunken, und die Ukraine wird mit ihr gemeinsam zugrunde gehen. In einem Bürgerkrieg usw. Und ich habe gesehen, dass solche Möglichkeiten in der Ukraine bestehen und dass die Sowjetunion faktisch aufgehört hat, wie ein großer, seriöser Staat zu existieren. Die Sowjetunion hatte nur militärische Macht. Aber wirtschaftliche, politische oder soziale Macht hatte sie nicht mehr. Das war die Zeit, als ich es verstanden habe, und als in der Ukraine die Unabhängigkeitsbewegung losging – es war die Volksbewegung damals in der Ukraine –, habe ich gesehen, dass man diesen Prozess anführen muss. Ich habe diese Mission übernommen und bin nach Białowieża gefahren, nachdem ich zum Präsidenten gewählt worden war, und habe das Abkommen über die Auflösung der Sowjetunion und das Entstehen des unabhängigen ukrainischen Staates unterzeichnet.

       Sind Sie in der Westukraine geboren? Wie alt sind Sie jetzt?

      Ich bin in Wolhynien46 geboren. Jetzt bin ich 80 Jahre alt. Ich habe in der Sowjetunion verschiedene Ämter ausgeübt. Aber ich bin in Polen geboren. Damals war die Westukraine ein Teil Polens. Wolhynien ist erst 1939 aus Polen ausgetreten, also habe ich gesehen, wie meine Eltern auf den polnischen Bauerhöfen gearbeitet haben.

       Das heiß, Sie waren von Anfang an ein überzeugter Ukrainer?

      Natürlich, natürlich … Ich war kein Stalinist, weil ich nicht unter Stalin gelebt hatte. Aber als man anfing, die Regierung aufzubauen, und mir, sagen wir es so, eine Führungsrolle in der Partei angeboten wurde, war ich damit einverstanden, weil das damals eigentlich keiner abgelehnt hat. Es gab keine Menschen, die die Macht abgelehnt hätten.

      Wie wichtig war die ukrainische Herkunft in der Sowjetunion? Denn Breschnew47 ist in der Ukraine geboren. Das war die Donezker Mafia, wie man es genannt hatte, nicht wahr?

      Ja.

       Und Chruschtschow hatte auch viele Ämter.

      Der Hauptsekretär des Zentralkomitees der Ukraine …

       Weil sie, nur rein zufällig, für die Sowjetische Partei waren?

      Na ja, es ist verständlich, dass in der Ukraine keine Leute an der Spitze des Landes standen, die nicht für die Sowjetunion waren. Sie hätten keine führenden Ämter innehaben können, wenn sie gegen das Sowjetsystem gewesen wären, das ist klar.

      Welche Rolle hat der Holodomor48 für die Veränderung der demografischen Struktur der Ostukraine gespielt? Denn das war nicht nur der Kampf gegen die Großbauern, sondern das war der Kampf gegen das nationale Bewusstsein der Ukraine.

      Der Holodomor in den ukrainischen Dörfern war Holodomor gegen alle. Man hat die Menschen nicht in Großbauern, in Reich und Arm, unterteilt, man hat alles von allen weggenommen. Und die Menschen sind zu Millionen umgekommen. Wir haben jetzt Listen von Menschen, die umgekommen sind, diese Listen zählen bereits vier Millionen Menschen, die in der Ukraine wegen des Holodomors umgekommen sind. Das sind nur die Menschen, die auf den Listen stehen. Aber wie viele wirklich umgekommen sind – das weiß niemand. So gesehen ist der Holodomor eine riesige Tragödie für die Ukraine gewesen. Und die Organisatoren des Holodomors waren Stalin und seine Handlanger. Das wissen alle. Und sie haben alles dafür getan, um die ukrainische Dorfbevölkerung auszurotten.

       Weil die Dorfbevölkerung die Repräsentanten waren?

      Sie waren die Repräsentanten der Kulturgrundsätze, der ethnischen Kraft der Sprache und der Kultur. Wenn wir heute die Schriftsteller der Gegenwart nehmen, die intellektuellen Wissenschaftler, dann sehen wir, dass sie alle vom Dorf stammen …

       Glauben Sie, dass die Ukraine momentan eine Chance hat, NATO-Mitglied zu werden?

      Nein, ich glaube nicht, dass sie diese Perspektive hat. Ich glaube, dass die Ukraine ihren eigenen Platz im allgemeinen europäischen Sicherheitssystem finden muss. Wie man das machen soll, bin ich noch nicht bereit zu sagen, aber wir müssen diesen Platz finden. Denn wenn Russland sich nicht beruhigt, dann werden wir immer einen Aggressor als Nachbarn haben, der ständig Ansprüche auf irgendwelche ukrainische Gebiete erhebt, oder auf die Geschichte, was weiß ich. Also brauchen wir einen Schirm über uns.

      Gespräch mit Pawlo Klimkin

      PAWLO KLIMKIN (*1967), ukrainischer Diplomat und Politiker, ist seit 19. Juni 2014 Außenminister der Ukraine. Zuvor war er Botschafter der Ukraine in Berlin. Er leitete seit 2008 die Verhandlungen mit der EU über das Assoziierungsabkommen sowie außerdem das ukrainische Verhandlungsteam bei Gesprächen mit Moskau über die Umsetzung des Friedensplans der OSZE.

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