Brennpunkt Ukraine. Christian Wehrschütz

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Brennpunkt Ukraine - Christian Wehrschütz

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wird verlieren, wenn das weiterhin so sein sollte.

      Gespräch mit Leonid Krawtschuk

      LEONID KRAWTSCHUK (*1932) war von 1991 bis 1994 der erste Präsident der Ukraine nach der Unabhängigkeit von der UdSSR. Im Anschluss war er bis 2006 Abgeordneter des ukrainischen Parlaments.

      CHRISTIAN WEHRSCHÜTZ: Herr Präsident, Ende 1991 ist die Ukraine nach 300 Jahren wieder zu einem unabhängigen Staat geworden. Die Bevölkerungszahl betrug damals 52 Millionen Einwohner, und jetzt sind es circa 45 Millionen. 23 Jahre nach der Unabhängigkeit hat die Ukraine große staatliche, soziale Probleme – und jetzt erlebt die Bevölkerung die größte Krise seit der Unabhängigkeit. Warum ist das so? Warum ist es der Ukraine in diesen Jahren nicht gelungen, ein stabiler Staat zu werden?

      LEONID KRAWTSCHUK: Da diese Frage sehr umfassend und, ich würde sagen, sogar global ist, kann man keine eindeutige Antwort auf sie geben. Es gibt viele Gründe – interne und externe.

      Ein interner Grund ist, dass nach siebzig Jahren der Herrschaft durch die kommunistische Ideologie und die Kommunistische Partei in der Ukraine eine Kategorie von Menschen entstanden ist, die sich gegenüber der Gesellschaft, gegenüber dem Volk, gegenüber dem Land und gegenüber der Geschichte nicht verantwortlich fühlten und es nach wie vor nicht tun – solche Menschen gibt es bis heute. Sie sind sich keiner Verantwortung bewusst. Die politische Elite, die diesen ganzen Prozess der Entwicklung eines neuen Staates, eines neuen Lebens, einer neuen Philosophie, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Freiheit hätte anführen sollen – sie war nicht bloß nicht dazu bereit, sondern lehnte das auch noch ab, weil sie immer noch die kommunistischen Ideen in sich trägt. Wir haben jetzt zwei Parteien: die Partei der Regionen und die Kommunisten. Eigentlich haben sie mit den Idealen, die die unabhängige Ukraine noch in den 1990er-Jahren ins Leben gerufen hatte, nichts gemein. Das heißt, dass die internen Probleme dermaßen kompliziert sind … Es gibt auch interne Wirtschaftsprobleme: Die Ukraine war eine Region, die auf Schwermaschinenbau spezialisiert war. 33 % aller Waffen der Sowjetunion wurden hier, in der Ukraine, hergestellt. 33 % – das ist ein Drittel. Das waren Hunderte von Betrieben, Tausende von Werkhallen, Millionen von Arbeitern. Sie innerhalb von kürzester Zeit in eine andere Branche umzustrukturieren, war sehr schwierig. Ein dritter Grund, der wirtschaftlich eine Rolle spielt: Die Ukraine hatte keine Energieträger und hat sie bis heute nicht. Das hat zur Folge, dass man viel Geld an den Hauptlieferanten von Energieträgern zahlen muss – an Russland. Dies sind interne Gründe.

      Es gibt auch externe Gründe, etwa den ständigen Druck auf die Ukraine durch Russland mit unterschiedlichen Methoden – wirtschaftlichen, politischen und jetzt auch noch militärischen. Heute können wir nämlich offen sagen, dass Russland nicht nur Agenten und Terroristen in die Ukraine schickt, sondern es beliefert diese auch mit Waffen und kooperiert mit ihnen. Im Grunde haben wir im Osten einen Krieg nach der Annexion der Krim, die absolut rechtswidrig war und von der Welt nicht anerkannt worden ist. Und es ist nicht nur Russland. Europa hat die Ukraine immer nur durch das Prisma der russischen Interessen betrachtet – und tut das bis heute. Ich habe mich natürlich mit vielen führenden westeuropäischen Politikern getroffen. Jedes Mal haben sie das Gespräch mit mir wie folgt beendet: „Sie müssen irgendwie auf Russland Rücksicht nehmen, um einen Konflikt zu vermeiden und um normale Beziehungen aufrechtzuerhalten usw.“ Zurzeit kann sich Europa nicht einmal auf Sanktionen einigen. Europa kann es nicht, weil jedes Land seine eigenen Interessen, seine eigene Sichtweise auf die Situation sowie seine eigenen Beziehungen mit Russland hat. Und viertens: Der Westen verzeiht Russland all das, was er der Ukraine nicht hätte verzeihen können. Zum Beispiel haben wir das Budapester Memorandum über den Verzicht auf die Atomwaffen unterzeichnet. Wir haben es unterzeichnet, auf die Waffen verzichtet. Jetzt sagen alle – sowohl diejenigen, die die westliche demokratische Welt repräsentieren, als auch Russland –, dass dieses Dokument nicht gültig ist. Nun stellt sich die Frage: Wozu sollte man etwas unterzeichnen, was nicht gültig ist? Und werden die nächsten Dokumente, die wir unterzeichnen, gültig sein? Wenn das eine Dokument nicht gültig ist, dann werden auch die anderen Dokumente nicht gültig sein. Wir zerstören nämlich das internationale Recht durch Russlands Handeln. Meiner Meinung nach erlaubt die Welt Russland das, was man nicht erlauben darf, weil die russische Aggression gegenüber der Ukraine nicht mit dieser Aggression enden wird. Russland hat größeren Appetit.

       Was glauben Sie, kann man die Krise in der Ostukraine mit kriegerischen Mitteln bewältigen? Denn ich war gerade in Donezk und habe gesehen, welchen Schaden die Infrastruktur genommen hat: Brücken und Straßen sind zerstört, Wasser- und Gasversorgung sind eingestellt. Die Ukraine wird es viel Geld kosten, die ganze Infrastruktur nach dem Krieg zu erneuern und wiederaufzubauen. Welche Meinung haben Sie zu der Bewältigung der Krise mit Waffen?

      Ich persönlich war schon immer (seit meiner Präsidentschaft) und bin auch jetzt dafür, dass alle noch so komplizierten Probleme (interne, externe, internationale Konflikte) auf friedlichem Wege durch Verhandlungen gelöst werden. Dialog und Verhandlungen.

      Jedoch müssen wir die Situation, die wir heute im Osten des Landes haben, genauer betrachten. Wir können mit den inländischen Freischärlern, die es auch gibt, nicht verhandeln, weil sie von Russland unterstützt werden. Russland schickt Terroristen, Kämpfer, Waffen, und sie erfüllen in diesem Fall den Willen Russlands und nicht den eigenen Willen. Sie sind nicht Herr über ihre Handlungen. Ihr Herr ist im Kreml, er heißt Putin. Ohne die Beteiligung und den Wunsch von Putin wird die Ukraine heute kein Problem lösen können. So viel ist jetzt klar. Deshalb plädieren wir dafür, die Verhandlungen auf diplomatischem Wege zu führen, aber wir sehen, dass die Möglichkeiten für Verhandlungen bezogen auf den heutigen Tag erschöpft sind. Man muss Druck auf Russland ausüben. Alleine wird die Ukraine Russland nicht stoppen können. Wir haben ungleiche Maßstäbe und ungleiche Kräfte. Wir betrachten den Sachverhalt mit realistischem Auge. Wenn die ganze Welt sich vereinigen würde, wenigstens Europa und die Vereinigten Staaten … Übrigens, die Vereinigten Staaten führen in diesem Fall eine sehr konsequente Politik, und Europa wechselt seinen Kurs ständig: Mal wird es Sanktionen geben, mal nicht, mal will man die Ukraine unterstützen, mal versucht man, den russischen Interessen gerecht zu werden … Nehmen wir zum Beispiel das Gespräch der Bundeskanzlerin mit Putin in Rio de Janeiro. Wir sehen doch, dass hier bereits direkt der Gedanke vertreten wird, die Ukraine (nicht die Ukraine, sondern die ukrainische Regierung) an den Verhandlungstisch mit den Terroristen zu bringen. Sobald wir uns mit den Terroristen an den Verhandlungstisch setzen, werden wir sie faktisch anerkennen. Die ukrainische Regierung würde die Volksrepublik Donezk und die Volksrepublik Lugansk anerkennen. Danach wird die Welt sagen: Aber sie führen doch Verhandlungen mit denen, also ist es eine echte Regierung. Das heißt, dass wir solche Zugeständnisse nicht machen dürfen. So etwas kann man auf der Ebene einer gemeinnützigen Organisation bzw. eines runden Tisches machen – aber nicht die internationalen Verhandlungen unter Beteiligung von OSZE und Russland führen. Das würde bedeuten, dass man den faktischen Sachverhalt anerkennt. Europa kann nicht geschlossen auftreten. Europa kann nicht gemeinsam mit den Vereinigten Staaten auftreten – und Putin versteht das und handelt entsprechend der Situation.

       Es gab ein sehr wichtiges Ereignis in der ukrainischen Geschichte: die Orangene Revolution. Während und nach dieser Revolution gab es viele Erwartungen, dass sich die Situation schnell bessern würde. Und zehn Jahre danach müssen wir feststellen, dass diese nicht erfolgreich war. Warum? Und warum kam es dazu, dass die Ukraine schon wieder zehn Jahre verloren hat. Warum ist das so?

      Die Väter und die Schöpfer der ersten (Orangenen) Revolution unter der Leitung des Präsidenten Juschtschenko haben auf dem Maidan sehr große und tiefgehende Vorschläge bezüglich der ukrainischen Reformen deklariert: Regierungswechsel, Änderung des Regierungssystems

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