Brennpunkt Ukraine. Christian Wehrschütz
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Brennpunkt Ukraine - Christian Wehrschütz страница 9
Gespräch mit Jack F. Matlock
JACK F. MATLOCK (*1929) ist ein amerikanischer Diplomat und Historiker. Er war Botschafter der USA in der Tschechoslowakei und von 1987 bis 1991 in der Sowjetunion. Sein Buch Autopsy on an Empire. The American Ambassador’s Account of the Collapse of the Soviet Union beschreibt das Ende der Sowjetunion.
CHRISTIAN WEHRSCHÜTZ: Wenn man sich die Geschichte der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion ansieht, ist es sehr interessant, dass in der Tat zwei führende Persönlichkeiten der KPdSU, Chruschtschow und Breschnew34, eine besondere Beziehung zur Ukraine hatten. Chruschtschows Familie übersiedelte 1908 ins Donezbecken, Breschnew stammte aus Dneprodserschinsk.
JACK F. MATLOCK: Ich denke, dass die östliche Ukraine allgemein ziemlich gut in Russland integriert war. Die Partei hatte jedoch besonders im Osten mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, vor allem in den Bergbaugebieten und in der Schwerindustrie. Die Volksdeputierten, vor allem aus Donezk, standen vielen Wirtschaftsreformen, die von Moskau ausgingen, sehr kritisch gegenüber.
Ich denke also, dass es in der östlichen Ukraine Widerstand gegen die Perestroika gab, insbesondere gegen Gorbatschows35 Versuche, einen Großteil der Wirtschaft aus der Kontrolle der Partei zu befreien. Nach dem Scheitern und dem Putschversuch dort entschied man sich also dafür, die Unabhängigkeit zu unterstützen, um zu vermeiden, dass sie unter eine strengere Kontrolle von Moskau kommen. Sie haben also gemeinsame Sache mit den Nationalisten im Westen gemacht. Aber ich glaube, dass dies eine Zweckehe war, die nie richtig funktioniert hat – die Ergebnisse sehen wir noch heute.
Aber bedeutet das, dass dies eine Entscheidung für die Unabhängigkeit war, um die Reformen zu vermeiden? Ich meine, wenn die Partei ihre Macht verloren hätte und es weiter abwärts gegangen wäre, hätte sich eine Art Marktwirtschaft entwickelt, wenn man es so nennen darf. Und das hätte wohl auch für die Bergbaugebiete sehr, sehr schmerzhafte Reformen bedeutet?
Ja, in der Tat. Aber darum denke ich, dass die Haltung im Westen der Ukraine, vor allem in Galizien, wirklich kulturell anti-russisch war – und im Osten war sie nicht anti-russisch. Aber viele waren Russen oder russlandfreundliche Ukrainer. Immerhin etwa 44 % der Bevölkerung – ich habe die Umfragen gesehen – sprechen lieber Russisch, das gilt natürlich für fast alle ethnischen Russen. Ein beträchtlicher Anteil der ethnischen Ukrainer, vor allem im Osten, ist wirklich in der russischen Kulturwelt aufgewachsen und spricht lieber Russisch. Natürlich gibt es dabei auch eine Spaltung: Vor allem im Osten wird Ukrainisch eher in den ländlichen Gebieten gesprochen, während das Russische die Sprache in den Städten ist. Es existiert also auch noch eine Land-Stadt-Trennung.
Aber ich denke, ich habe in meinem Buch über Stalin beschrieben, wie er Galizien, die anderen westlichen Territorien, die baltischen Staaten und die Republik Moldau nach dem Hitler-Stalin-Pakt einnimmt und dann natürlich am Ende des Zweiten Weltkrieges zurückerobert – und wie das Integrieren in die Sowjetunion einen „Krebs“ in das System brachte. Ich bin noch immer nicht davon überzeugt, dass die Sowjetunion auseinandergebrochen wäre, wenn das Band von Territorien – das Baltikum – zumindest nominell unabhängig geblieben wäre und der Rest dort gelassen worden wäre, wo er war, in Polen und der Slowakei, der Tschechoslowakei dann. Aber das ist Spekulation, wir wissen das. Und ich habe in dem Buch beobachtet, dass die Balten in allen anderen Republiken tatsächlich eine Opposition zum sowjetischen Zentrum organisierten. So veröffentlichten die Esten zum Beispiel regimekritische Zeitungen in kasachischer Sprache. Sie teilten die Sowjetunion auf, jeder nahm drei oder vier Republiken und versuchte, eine unabhängige Bewegung in ihnen zu fördern. Ich bin mir nicht sicher, ob das entscheidend war, aber der wirkliche Impuls in der Ukraine kam natürlich vom Westen und war sehr nationalistisch. Und da war natürlich die Art und Weise, wie die vereinigte Kirche unterdrückt worden war. Eigentlich gab es mehr Gewalt dort im Westen, weil eine Art Guerillakrieg für mehrere Jahre am Ende des Krieges fortgeführt wurde, bis zu einem gewissen Grad unterstützt vom Westen, wenn auch heimlich.
Obwohl das Referendum im Dezember 1991 mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit war, war das, glaube ich, eine Zweckehe zwischen den Nationalisten im Westen und der Partei im Osten. Und diese dauert in der unabhängigen Ukraine weiter an.
Aber auf der anderen Seite bedeutet russischsprachig doch nicht prorussisch?
Nein, das ist richtig, absolut. Nun, russischsprachig bedeutet nicht, dass die Menschen unbedingt in Russland leben und in die aktuelle Russische Föderation wollen. Ich denke, es bedeutet, dass sie im Wesentlichen in einer Welt leben wollen, die der russischen Kultur verpflichtet ist. Sie wollen sich sicher fühlen, dass die Verwendung von Russisch sie nicht zu Bürgern zweiter Klasse macht. Ich denke also in diesem Sinne, dass die erste Abstimmung nach der Maidan-Revolte vornehmlich darauf zielte, das Ukrainische zur einzigen Amtssprache zu machen. Ehrlich gesagt, das war einfach nur dumm, weil die Ukraine nicht weiter zusammenbleiben wird, wenn man es aufgrund von Sprachdifferenzen nicht schafft, eine gemeinsame Loyalität zur ukrainischen Nation zu entwickeln. Die Regelung zur Amtssprache muss auch Russisch beinhalten, wenn man die Russisch sprechenden Menschen, unabhängig davon, ob sie russischer oder ukrainischer Herkunft sind, als vollwertige ukrainische Bürger mit einer Loyalität gegenüber dem Staat mit einschließen will.
Im Osten ist das Sprachproblem auch ein Problem der Generationen. Dort gibt es ältere Menschen, die mit einer gewissen Nostalgie an die Sowjetunion zurückdenken. Für sie sah es damals stabiler aus und vielleicht hatten sie dort einen Platz. Am Beispiel der Babuschkas36, die sich in Donezk aufgelehnt haben, und der ebenfalls älteren Frauen, die Stalin-Bilder mit sich tragen, lässt sich das gut zeigen. Das ist aber ein Phänomen, das man nicht nur in Teilen der Ukraine findet. Es gibt eine Reihe dieser Splits und ich möchte damit nicht sagen, dass eine große Zahl der russischsprachigen Menschen im Osten der Ukraine tatsächlich Teil Russlands sein will. Die Dinge in Russland auf der anderen Seite der Grenze sind nicht so viel besser. Aber die Menschen wollen respektiert werden und ich denke, dass dies eine Grundsatzfrage ist – ein Problem, das die führenden Politiker im Westen noch nicht ganz verstanden haben.
Bevor wir auf die aktuelle Situation zu sprechen kommen, habe ich noch eine historische Frage: Warum wurde die Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg in dieser Form gegründet, ohne die westlichen Teile? Und auch die Krim war kein Teil davon, Donezk und Lugansk waren wiederum russische Gebiete des zaristischen Russlands. Es gab keine Ukraine im zaristischen Russland – und das erinnert mich ein wenig an die Situation, wie sie im ehemaligen Jugoslawien war: Nach dem Ersten Weltkrieg war Slowenien in drei Teile aufgeteilt. Es gab ebenfalls Probleme, es gab kein Slowenien als Nationalstaat, sondern nur die Provinz Slowenien. Auf der anderen Seite hatte man unter Titos Zeiten eine autonome Republik, die autonomen Gebiete Kosovo und Vojvodina und dann war da immer die Kritik der serbischen Nationalen oder serbischen Intellektuellen, dass ein starkes Jugoslawien immer ein schwaches Serbien bedeuten würde. Was waren für die kommunistische Führung am Ende der Revolution und nach dem Bürgerkrieg die Gründe, die Ukraine zu bilden? Geschah dies, um Russland zu schwächen, oder was war der Grund? Was meinen Sie dazu?
Nun, wenn es um Nationalitäten geht, war Stalin wahrscheinlich die wichtigste Figur. Er hat wirklich versucht, Menschen zusammenzubringen, die nicht unbedingt zusammen sein wollten, also Abchasien mit Georgien und Südossetien mit Georgien anstatt mit Nordossetien usw. Ein Ziel seiner Nationalitätenpolitik war es, „gemischte“ Bereiche zu schaffen – was jeden Schritt in Richtung echte Unabhängigkeit behindert hat. Ich bin zumindest dieser Behauptung begegnet und natürlich hat man im Donbass daran erinnert, dass die Kosaken eine verächtliche Haltung gegenüber den Ukrainern, den Bauern, einnahmen. Sie wurden Khokhol genannt. Das bedeutet auf Russisch „Wasserspeier“, eine Art Schimpfwort für die Ukrainer. Und doch waren