Die Dracheninsel. Irmela Nau
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Der Morgen kam viel zu früh. Wie erschlagen fühlte sich Emily, als sie aufstand und ihre schmerzenden Glieder reckte. Lustlos kaute sie an einem Stück Brot, während sie darüber nachdachte, wohin ihre Reise nun gehen sollte. Sie wusste nicht, wo sie war, aber wenn sie dem Weg folgen würde, den sie in der Nacht geritten war, würde sie bestimmt irgendwann zu einem Dorf gelangen. Sie rief nach ihrer Stute, die sich auf einer Wiese die Beine vertrat und mit Tau bedecktes Gras fraß. Auf den Ruf Emilies hörte sie nicht. Emily schnalzte mit der Zunge, stieß einen leisen Pfiff aus und rief abermals, aber die Stute reagierte nicht.
»Na schön«, seufzte Emily und ging langsam auf ihr Pferd zu. Ganz offensichtlich wollte ihr Pferd einen Namen. Jetzt lag es an ihr, den richtigen zu finden. Emily betrachtete die Stute einen Moment. Auf der ausgestreckten Hand einen Apfel balancierend, blieb sie vor ihr stehen. »Rubina«, sagte Emily leise. Die Stute zuckte mit den Ohren. »Rubina«, wiederholte Emily lauter. Schnaubend hob die Stute den Kopf und schnupperte an dem Apfel. »Rubina.« Unendlich behutsam nahm die Stute den Apfel von Emilies Hand und kaute genüsslich. »Komm, Rubina«, sagte Emily und die Stute folgte ihr sofort und ließ sich satteln.
Noch bevor die Sonne hoch am Himmel stand, hatte Emily eine weite Strecke bezwungen, jedoch kein Haus weit und breit entdeckt. Sie rastete kurz und ritt dann in ruhigem Tempo weiter, bis sie einen geeigneten Lagerplatz fand. Ein kleines Wäldchen spendete ein wenig Schutz und ein klarer Bach lud zu einem erfrischenden Bade ein. Diesmal richtete sich Emily eine richtige Schlafstatt. Nach einer kräftigen Mahlzeit, die aus Brot, kaltem Fleisch, Käse, Obst und einigen Nüssen bestand, legte sich Emily auf ihre Decken und schlief bald ein. Doch auch diese Nacht verlief unruhig. In seltsame Träume verstrickt wälzte sich Emily hin und her, bis sie die Augen aufschlug. Etwas hatte sie geweckt. Sie blickte hastig rings umher, doch nichts außer ihrer Stute war bei ihr – oder? Zwischen den Bäumen blitzten zwei strahlend blaue Punkte auf, waren aber sofort wieder verschwunden, so dass Emily sich fragte, ob sie überhaupt da gewesen waren. Beunruhigt legte sie sich wieder hin und schlief ein. Doch bis zum Morgen verlief ihr Schlaf nun ungestört und sie erwachte erfrischt und munter.
So verging die Zeit. Bei Tag ritt sie durch grüne Wiesen, an brachliegenden Feldern vorbei, durch Laub- und Nadelwälder, über schmale Pfade und breite, ausgefahrene Wege und zum Abend suchte sie sich geschützte Plätze an Waldrändern. In jeder Nacht schreckte sie aus dem Schlaf, aber jedes Mal entdeckte sie die zwei blauen Punkte, die so merkwürdig strahlten und verschwanden, sobald Emilies Blick sie gefunden hatte. Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran und fühlte sich seltsam beschützt und schlief tief und fest.
Endlich – am Mittag des zehnten Tages – entdeckte Emily die mit Reed bedeckten Dächer einer kleinen Siedlung. Froh, endlich wieder andere Menschen zu sehen, trieb sie Rubina zu einem schnelleren Trab an. Das Dorf war klein und machte einen verschlafenen Eindruck. Der Gasthof war heruntergekommen und schäbig, trotzdem mietete sich Emily dort ein. Sie hatte nämlich einen kleinen Beutel mit Münzen entdeckt, den ihr Vater ganz unten in ihrem Proviantbeutel versteckt hatte und war froh, wieder einmal in einem richtigen Bett schlafen zu können. Obwohl der Gasthof von außen nicht gerade einladend gewirkt hatte, entpuppte er sich von innen als sehr gemütlich und die Wirtsleute waren liebe Menschen, die sich um Emilys Wohlergehen sehr bemühten. Ihr Zimmer war peinlich sauber, die Matratze weich und das Essen reichlich und gut. Emily fühlte sich fast wie zu Hause. Trotzdem dachte sie an ihre Eltern und fragte sich, wie Elric wohl auf ihre Flucht reagiert haben mochte. Sie betete, dass es ihnen gut gehen möge und das Elric seine Wut nicht an ihnen ausgelassen hatte.
Emily blieb ein paar Tage im Dorf. Zum einen, um sich von der langen und anstrengenden Reise zu erholen und zum andern, um sich einen vernünftigen Plan auszudenken, wie und wo sie mit der Suche nach ihrer Herkunft beginnen sollte. Denn obwohl sie das nur als Ausrede benutzt hatte, um die Flucht vor Elric zu rechtfertigen, hatte sie schon längst beschlossen, wirklich nach ihren Wurzeln zu suchen. Sie spazierte jeden Tag durch die Wiesen rings um das Dorf, dachte angestrengt nach, ersann jenen Plan und dann wieder einen anderen, nur um dann alle zu verwerfen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Ahnung wie sie mit der Suche beginnen sollte.
Wieder einmal saß Emily missmutig im Gras und zupfte gedankenverloren an einer gelben Blume.
»Guten Tag«, riss sie eine freundliche Frauenstimme aus ihren trüben Gedanken. Emily schaute erschrocken auf. Vor ihr stand eine alte Frau mit schlohweißen Haaren, die, zu einem dicken Zopf geflochten, bis zu ihren Hüften reichten. In ihrem wettergegerbten Gesicht funkelten zwei blitzblaue Augen zu Emily herunter und die vielen Runzeln zeugten von einem langen und arbeitsreichen Leben.
»Hat Euch die Blume so viel Leid zugefügt oder hadert Ihr ganz allgemein mit der Welt?«
Emily schaute stirnrunzelnd auf die völlig zerrupfte Blüte in ihrer Hand und lief rosarot an.
»Ja … Nein … Ja … weder noch«, stotterte Emily und verstummte verlegen. Die alte Frau lächelte und ließ sich nach einer kleinen Weile neben Emily ins Gras sinken.
»Ich bin Mildred«, stellte sie sich vor, blickte sie von der Seite her an und nahm ihr sanft die Reste der gelben Blume aus der Hand und betrachtete sie eingehend.
»Nun, was bedrückt Euch so, dass Ihr ein armes Kräutlein so behandeln müsst?«
Emily starrte auf ihre nun leeren Hände. Bisher hatte sie noch nie mit jemandem über ihre Sorgen und Nöte gesprochen, außer mit ihren Eltern natürlich, aber die waren weit entfernt. Sie lächelte die Frau schüchtern an und sagte:
»Mein Name ist Emily«, und verstummte wieder. Sie fand es schwierig, mit einer völlig Fremden zu reden.
»Emily. Ein schöner Name. Ihr seid aber nicht aus dieser Gegend, nicht wahr?«
»Nein. Mein Dorf liegt zehn oder elf Tagesritte von hier entfernt.«
»Und was bringt Euch hierher? Verzeiht meine Neugier, aber zu uns verirren sich selten Menschen.«
Emily überlegte, ob sie Mildred von Elric erzählen sollte, entschied sich dann aber doch dafür, ihr lieber von der Suche nach ihrer Herkunft zu erzählen.
»Seht Ihr«, begann sie zögernd, »ich wurde als Baby ausgesetzt.«
»Wie schrecklich«, unterbrach sie Mildred.
»Ja und nein. Ich wurde von sehr lieben Menschen gefunden, die mich wie ihre eigene Tochter großgezogen haben. Aber sie konnten mir nie sagen, wo ich eigentlich herkomme.«
»Wann haben sie Euch gesagt, dass Ihr nicht die leibliche Tochter seid?«, fragte Mildred.
»Als