Zwei Freunde. Liselotte Welskopf-Henrich

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Zwei Freunde - Liselotte Welskopf-Henrich

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ihrem Gatten zu. Ihre vollen Lippen waren aufgesprungen wie eine Knospe. Wichmann erschrak. Er begriff, daß Justus Grevenhagen sie hinter den Mauern und herabgelassenen Jalousien des Hauses in seine Arme nehmen und küssen durfte, und seine Seele fuhr bei dem Bilde zurück wie die Hand, die unwissend glühendes Eisen berührt hat.

      Durch die hohen Fenster seines Zimmers schaute er noch einmal nach den Zweigen des Ahorns. Wo war er? Er war einen Weg gegangen, der nicht weiterführte und auf dem er nicht mehr zurückfand. Was sollte jetzt werden? Sie war Grevenhagens Frau.

      Er mußte fliehen. Morgen wollte er dieses Zimmer kündigen. Seine zitternden Hände rissen Briefbogen aus der Schublade des Schreibtisches und schrieben den Brief, der seine Reise in die Vaterstadt für Weihnachten festlegte.

      Als der Morgen grauen wollte, saß Oskar Wichmann noch im Smoking auf der Kante seiner weißbezogenen Couch, und das Licht der Stehlampe fiel auf einen Zettel in seinen unruhigen Fingern:

      »Boston nach der Pause. M. G.«

      Es war ein kleiner Zettel aus sehr dünnem, ganz holzfreiem Papier. Die eine Schmalseite war perforiert, Anzeichen dafür, daß es sich um ein Blatt aus einem Notizbuch handelte. Die Worte waren mit Blei flüchtig geschrieben, mit anderen Schriftzügen, als sie das Gedicht des spottenden Kollegen zeigte.

      Wichmann quälte sich mit der nicht Wirklichkeit gewordenen Möglichkeit, daß er dieses Papier zuerst aus der Tasche gezogen und Fräulein Hüsch zum Lesen gegeben hätte. Gleich von welcher Hand es stammte, welcher Schurke es geschrieben hatte – die Verleumdung hätte es aufgegriffen, mit tausend Händen herumgezeigt, mit stinkenden Zungen umgeifert, bis sie die Frau, die köstlicher war als andere, endlich in den Schmutz ziehen konnte.

      Schuft. War es Borowski, war es Nathan? Wer war es sonst?

      Wer?

      Marion stand weit entfernt von dem Gewürm. Wenn sie, Fürstin der Schönheit und Justus Grevenhagens Frau, zum Tanz befehlen wollte, so tat sie es mit einem Wort, wie die Frauen aus königlichem Geblüt.

      Sie … nein … niemals.

      Laß dir die gespaltene Zunge herausreißen, du kleine Schlange in meiner Seele. Schweig mit deinem Gezisch! Marion ist auf der rechten Seite ihres Tänzers gegangen, nicht auf der linken. Sie schrieb keinen Zettel, während ihre Hände dem Tanz gehörten. Sie hat … auch nicht … am Tisch … und nicht, als Oskar Wichmann das kleine Mädchen Silvia Sauberzweig zum Abschied veranlaßte … und als er Marion Grevenhagen die Hand küßte …

      sie hat auch nicht zum Scherz …

      schweig, schweig …

      hat auch nicht gewartet, als Oskar Wichmann nicht mehr kam …

      sie hat nicht …

      nicht, hörst du …

      ihre Schriftzüge sehen anders aus …

      woher weißt du das, Oskar Wichmann?

      Wer kannte ihre Hand, wenn sie schrieb? Wen durfte Wichmann danach fragen? Wer war der Schuft, der die Züge so zierlich – nein, mit weitem Strich – so dumm gesetzt hatte?

      Wichmann ließ den Zettel durch die Luft auf den Teppich schweben und legte den schmerzenden Kopf auf die Arme. Wo war jetzt das Notizbuch, aus dem eine Hand – welche, welche? – diesen Zettel herausgerissen hatte?

      Oskar Wichmann bückte sich und hob das Papier wieder auf. Er legte es in einen kleinen Visitenkartenumschlag und schob den Umschlag in die Brieftasche. Hund, der es gewagt hat … Wichmann steckte einen leeren Bogen in ein Kuvert, schrieb eine erfundene Adresse, frankierte nicht und machte sich mit diesem Erzeugnis seiner List auf den Weg zum Briefkasten. Er war in den Überzieher geschlüpft, den Hut hatte er nicht aufgesetzt. Laut und widerwärtig rührte sich das Sicherheitsschloß, als er die Wohnungstür öffnete; die Haustür schnappte mit Klang zurück, als sie wieder geschlossen wurde. Es war noch fast Nacht, noch nicht sechs Uhr.

      Wichmanns Schritte hallten durch die stille Straße. Der Briefkasten befand sich einige Häuser weiter, dem vom Park entfernten Ende der Straße zu. Er warf seinen Brief ein und markierte eine erschreckte Bewegung, als ob er Zuschauer habe, denen er zeigen wolle, daß dieses Einwerfen ein Versehen gewesen sei.

      Er bewegte die Klappe der gefräßigen Öffnung ein paarmal auf und ab, wie in einer vergeblichen Hoffnung, seinen Brief wieder herauszuholen, und stellte sich dann bei dem Briefkasten auf.

      In zehn Minuten mußte der Bote kommen, der den Kasten zum erstenmal am Tage leerte.

      Minuten waren lang.

      Oskar Wichmann ging auf und ab. Die Laternen brannten noch. Er fühlte sich nicht müde.

      Als der Bote mit dem Rad und dem großen ledernen Sack kam, begann Wichmann zu reden. Er habe einen wichtigen Brief, der eingeschrieben werden mußte und noch nicht frankiert war, aus Versehen eingeworfen … Hier sei der andere, an seine Schwester gerichtet, den er habe einwerfen wollen … in der Dunkelheit habe er falsch gegriffen …

      Es sei außerordentlich unangenehm … er müsse das Schreiben unbedingt zurückhaben …

      Auf der Post könne er es zurückerhalten, im Sortierraum, meinte der Beamte ruhig.

      Wichmann zog Portemonnaie und Zigarrenetui. Sicher befanden sich nicht viele Briefe in dem Kasten? Nein, es war zu hören, wie wenige in den Sack fielen. Wenn der Herr Postbeamte vielleicht rasch selbst nachsehen würde?

      Aber es sei viel zu dunkel … und überhaupt nicht gestattet.

      Der Sack war noch nicht geschlossen. Zweifelnd schaute der Beamte sich um. Das Geldstück und zwei Zigarren glitten durch seine Hand rasch in die Tasche.

      Er griff in den Ledersack. Zwei Hände voll Briefe und Karten kamen aus dem Schlund. Wichmann schaute dem Boten über die Schulter. Wenn er Unglück hatte, lag sein Schreiben obenauf.

      »Ohne Marke, auf der Rückseite groß mein Name«, erklärte der Assessor.

      Der Bote sah die Briefe bedächtig durch und drehte jeden nach beiden Seiten.

      »Halt … hier …« Wichmann hielt hastig in der Hand des anderen einen Brief fest, einen Umschlag aus weißem Papier, dessen Güte zu sehen und zu fühlen war.

      »Nee, nee, Herr, das ist nicht Ihrer. Der ist aus der Kreuderstraße 3, die Umschläge kenn’ wir schon. Sehen Sie her, lassen Sie mich umdrehn, der ist auch frankiert.« Der Bote hielt Wichmann die Vorderseite des Briefes mit der Adresse und der Marke unter die Nase. Wichmann starrte darauf.

      »Herrn

      Dr. Alfons Musa …«

      »Ja … danke … ich sehe …«

      »Aber der … da hab’n wir Ihren! Bitte, das ist der Ihre, sehn Sie nicht? Ohne Marke – und Dr. O. Wichmann.«

      »Ja … ja … danke.«

      Wichmann zerrte noch einen Schein hervor und drückte ihn dem Mann in die Hand. Dann machte er sich mit seinem Umschlag auf den Rückweg.

      Herrn … Alfons Musa … und diese … diese … Schrift. Wichmann war zumute, als ob ein scharfes Messer

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