Zwei Freunde. Liselotte Welskopf-Henrich

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Zwei Freunde - Liselotte Welskopf-Henrich

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einen zweiten Zettel. Eine vergessene gebrauchte Theaterkarte oder …? Wichmann holte den zweiten Zettel heraus, während er den ersten tiefer steckte.

      Ein Strick zog seine Kehle zu, sein Herz versagte fast. Er griff nach der Wand und schob das Papier zurück. Vor seinen Augen wirbelten die Linien der Marmortische.

      »Boston nach der Pause. M. G.«

      Ein Spuk? Foppen böser Geister? Oder …

      Wichmann wußte nicht mehr, wie er zu Korts und jenem fremden Herrn gekommen war, die beide dem Tanze zusahen. Vielleicht hatten sie ihn angesprochen, und er war stehengeblieben.

      Der Fremde fiel ihm auf. Er war das erste, was er wirklich sah, nachdem er jenen zweiten Zettel gelesen hatte. Der Unbekannte war noch jung, schmal gewachsen, mit starkem Hinterkopf und trug eine dunkle Intelligenzbrille. Der Kopf streckte sich über einer langen Brust nach vorn. Neben den stämmigen, breiten Schultern von Korts glich er einer Weidengerte.

      »Da sehn Sie«, sagte er zu Wichmann, noch ohne mit ihm bekannt geworden zu sein, »diese Groteske des Totentanzes. Sehen Sie diese Bürgerweiber, wie sie sich geputzt haben für den Jahrmarkt der Körper. Wollen Sie sagen, daß das Tanzen etwas anderes sei? Verborgene Wollust … Tabu …›Das darf man nicht vor keuschen Herzen nennen … was keusche Herzen nicht entbehren können … ‹ Mein Herr, was meinen Sie, wie lange diese Weiber noch tanzen und girren, bis der Vulkan birst?«

      »Was für ein Vulkan?«

      »Sie wollen mich absichtlich nicht verstehen. Dies ist ein Theater. Hinter der Bühne rollt schon der Donner; der nächste Blitz wird einschlagen, er wird einschlagen. Vor den Flammen werden sie fliehen wollen, die Spieler und die seidenbezogenen Weiber … ersticken werden sie, einander morden … Laß sie krepieren … sie sterben mit ihrer Welt.«

      »Sie sind Kommunist?«

      »Herr! Ich sehe, was hinter den Dingen steht. Was ist das, Kommunist? Ich rede von der Zeit der Schwerter und der Erzengel! Ja, meinetwegen, aber nur, wenn Sie ›Kommunist‹ als Schimpfwort nehmen, so bekenne ich mich dazu, um des Ungewöhnlichen willen. Ihre bürgerliche Moral stinkt, ihre Wirtschaft ist ein fauler Stamm. Lassen Sie sich nicht täuschen, wenn Sie noch die unversehrte Rinde sehen; er stürzt an einem Tag zusammen, wenn der Wind aufspringt. Dort sehen Sie den Borowski tanzen, das Schweineohr mit seiner girrenden Taube! Sehen Sie ihn an! Die Luft, mit der man ihn aufgeblasen hat, wird entweichen, das Jahrmarktschweinchen klatscht zusammen. Und so etwas regiert in Deutschland! Wollen Sie das dulden?«

      »Vermutlich sind Sie auch Beamter?«

      »Nein, Herr, glücklicherweise nicht. Ich bin Proletarier, wenn auch mit einem weißen Stehkragen. Wollen Sie mir den gestatten, ja?«

      »Was denken Sie über Frau Grevenhagen?« fragte Korts.

      »Interessiert Sie das?«

      »Nicht im geringsten.«

      Der merkwürdige Mensch verschwand ohne Gruß.

      »Wer ist das gewesen, Korts?«

      »Ein Doktor Musa, Verrückter aus der Abteilung II.«

      Wichmann lehnte sich neben Korts an die Wand.

      Marion kam mit ihrem Gatten aus der Loge und ging mit ihm zum Tanz. Sie trug ein langes schwarzes Seidenkleid. Es war bis zum Hals geschlossen und schmiegte sich an ihre Gestalt. Nur im Rücken gaben Spitzen den Schimmer ihrer Haut preis. Justus Grevenhagen führte sie wie eine den Göttern geweihte Hindin, behutsam, mit unmerklicher Berührung, und sie folgte seinem Willen, ehe er ihn ausdrückte. Marion war nicht klein. Der Gatte beugte sich um ein weniges zu ihr hinab. Seine Bewegungen waren gut, in den Maßen der Musik, sie waren geschult, aber was er in seinen Armen hielt, war ein Wunder. Er empfand es, und der Liebende liebte ihn dafür.

      Marion hatte kein Tanzstundenbillett geschrieben. Sie war auch keine Dirne. Armer Nathan, armer Borowski, die die Herrlichkeit dieser Frau nie empfinden konnten. Nicht nur im alten jüdischen Tempel, auch bei den Frauen gab es Vorhof und Heiligtümer, und nicht alle waren zugelassen zu schauen; sie wurden blind, wenn sie sich näherten, und spotteten über das, was die Sehenden zu erkennen vorgaben.

      Einmal noch an diesem Abend konnte der Assessor Wichmann an ihren Tisch gehen … einmal noch … denn Fräulein du Prel saß jetzt dort. Bis dahin, bis zu diesem einen Mal, währte das Fest. Dann mußte es Nacht werden.

      Wichmann blieb bei dem schweigsamen Korts. Fräulein Hüsch tanzte vorbei. Sie tanzte mit Borowski, sie tanzte mit Nathan, sie tanzte oft mit Schildhauf und sie tanzte mit Casparius. Boschhofer kam quer durch den Saal und begrüßte sie. Er lachte laut und zutunlich, und Nischan ließ sich von ihr den dritten Tango geben. Grevenhagen ging die letzten Takte eines Onestep mit ihr. Er war ihr bester Tänzer. Die Geheimrätin hatte erzählt, daß er als junger Mensch Herrenreiter gewesen war.

      Marion …

      Es war schon spät.

      Wichmann ging zum zweiten Mal den Gang zu der Loge; der Boden brannte ihm unter den Füßen wie Feuer. Auf dem Tisch in der Loge standen Sektflaschen; in den Gläsern perlte es. Boschhofer trank und sprach hinüber zu Frau Ministerialrat Grevenhagen, die ihm mit rätselhaftem Ernst zuhörte. Es roch nach teuren köstlichen Tabaken und noch einmal matt und verfließend nach jenen fremden Blumen.

      Wichmann führte Fräulein du Prel zum Tanz.

      Die Sekretärin trug das Haar schlicht gescheitelt wie in dem Vorzimmer Nr. 412. Ihre Bewegungen waren graziös, ihr Velourskleid, das aus dem Dunkelblauen ins Schwarze schillerte, war ein Pariser Modell von aparter Linienführung. Aber ihre Haut schien matt, ohne den Schimmer der Blütenblätter, und die Augen sahen zurückhaltend auf den begleitenden Herrn. Die Instrumente spielten ermüdet.

      Als Wichmann seine Tänzerin zurückführte, war die beginnende Auflösung des Festes zu spüren. Der Staatssekretär hatte sich schon wieder entfernt. Tische waren leer geworden. Damen nahmen die Pelze um die Schultern, Herren zahlten. Auch Grevenhagen und Boschhofer hatten dem Oberkellner auf Tellern unter der Rechnung verdeckt die Summen hingelegt. Durch das Portal des Saales verschwanden immer mehr der Festteilnehmer.

      »Wollen Sie nicht in unserem Wagen mitkommen, Herr Wichmann? Sie wohnen doch nicht weit von uns?«

      »Mit vielem Dank, Herr Ministerialrat.«

      Als Wichmann seinen Kollegen die Mitteilung machte, spürte er, daß er ein Außenseiter geworden war.

      »Binde Sie sich heut abend noch ein G’wicht an die Füß’, lieber Wichmann, daß Sie auf unserer nüchternen Erde bleiben. Sie haben so was Verklärtes an sich! Das ischt net gesund für einen Assessor!«

      Wichmann fand keine Gelegenheit, Dienste zu leisten, denn Grevenhagen sah alles. Er gab das Tier mit den Glasaugen um ihre Schultern, er hielt und er reichte den Strauß der Teerosen, die mit müden Köpfen Duft verströmten. Die Garderobe wurde in die Loge gebracht.

      Man ging, von Blicken geleitet.

      Boschhofer hatte einen Mietwagen bestellt und nahm Nischan mit sich.

      Wichmann saß zum erstenmal in dem dunklen Kabriolett, das weich und fast ohne Geräusch ging. Er saß neben dem Chauffeur, dem schweigsamen Mann mit der sicheren Hand. Hinter sich hörte er keine Stimme. Die Fahrt war kurz.

      Vor

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