Ehrenmord ist kein Aprilscherz. Manfred Eisner
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»Was haben Sie da wieder einmal aus dem Stapel der Cold Cases ausgegraben, Nili?«, fragt Robert. Jeder von ihnen hat auf seinem Schreibtisch einen Aktenstoß von jenen etwa einhundertachtzig ›erkalteten‹ Kriminalfällen, die im Land Schleswig-Holstein aus welchen Gründen auch immer bisher nicht abgeschlossen werden konnten. Ungelöste Fälle bleiben beim LKA so lange bestehen, bis man begründet davon ausgehen kann, dass sämtliche darin involvierte Akteure nicht mehr am Leben sind. Erst dann dürfen sie endgültig geschlossen und ad acta gelegt werden.
»Es handelt sich um ein aufsehenerregendes, weil auch doppeltes Tötungsdelikt, das sich vor etwa eineinhalb Jahren in Glückstadt ereignete. Man fand die beiden Toten in einem älteren Renault Mégane mit belgischem Kennzeichen, der wohl in der Nacht zuvor unbemerkt am Parkplatz der Elbfähre nach Wischhafen abgestellt worden war. Auf dem Fahrersitz befand sich die Leiche eines jungen Mannes, der sich anscheinend mit einem Kopfschuss selbst getötet hatte und dem anschließend die Tötungswaffe aus der Hand gefallen war, die sich übrigens auf dem Beifahrersitz befand. Ein gewisser Ole Harms, Inhaber des dortigen Imbiss, entdeckte den Wagen mit dem Toten, als er um fünf Uhr in der Früh hinfuhr, um zu öffnen, und seinen Pkw direkt daneben abstellte. Er rief sofort die Glückstädter Kollegen. Es waren – lasst mich mal sehen – der Polizeistationsleiter Sönke Jürgens mit seinen Leuten Elke Brodersen und Frank Nissen, die zum Fundort gelangten und den Wagen untersuchten. Dabei fanden sie im Kofferraum die zweite, eine halb nackte weibliche Leiche. Diese war allerdings mit einem großen Messer, das ihr noch tief in der Brust steckte, getötet worden. An beiden Händen fehlten ihr die Finger und die Daumen, und das entstellte Gesicht trug deutliche Spuren einer brutalen Misshandlung. Diese wurden ihr offensichtlich vor dem Tötungsakt zugefügt.« Nili macht eine Pause. Ihre Kollegen sind von ihrem Vortrag regelrecht ergriffen.
»Ganz schö happig!«, entfährt es Fachinspektor Ferdl Csmarits, der aus dem österreichischen Burgenland stammt und der Abteilung im Rahmen des Europol-Fach-Austauschprogramms zugeordnet ist und sich als Erster dazu äußert.
»Da der Fall bis heute nicht gelöst werden konnte, darf ich wohl davon ausgehen, dass die Tat als eine Selbsttötung des Mannes inszeniert wurde, der vorher die Frau bestialisch mutiliert und erstochen hat, um sich dann selbst zu richten. Ich vermute auch, dass der Fundort nicht der Tatort gewesen sein kann«, bemerkt Kriminalkommissar Zander.
»Und wieso der belgische Wagen?«, argwöhnt seine gleichrangige Kollegin Margrit Förster. »Wie passt der ins Bild?«
»Könnt ma net a bisserl mehr erfahr’n?«, will Ferdl wissen.
»Ihr habt alle richtig vermutet«, fasst Nili zusammen, »der Fall ist viel komplizierter, als er sich auf den ersten Blick darstellt. Ich habe für euch die umfangreiche Akte scannen lassen. Ihr findet sie auf euren Bildschirmen unter dem Kennwort ›Doppelmord in Glückstadt‹. Ich denke, es ist am besten, wenn jeder von euch den Fall zunächst einmal von vorn bis hinten durcharbeitet. Weisungsgemäß gehe ich jetzt erst einmal mit unserem direkten Vorgesetzten Walter Mohr zum Chef, um den Doppelmord als unseren nächsten Bearbeitungsfall zu melden und sein Einverständnis einzuholen. Ich habe mir da einige Punkte notiert, die uns weiterführen könnten. Wir sprechen uns nach der Mittagspause wieder, okay?«
Während Nili sich auf den Weg macht, um sich vom Leiter des Dezernats 21 das Plazet für ihr Vorhaben einzuholen, studieren ihre Kollegen eifrig die Fallakte und die vielen darin enthaltenen Aussagen der dazu befragten Zeugen. So erfahren sie, dass es sich bei dem Toten am Steuer des Wagens um den achtundzwanzigjährigen Kfz-Mechaniker Uwe Wilkens handelt, gebürtig in der Gemeinde Peissen bei Itzehoe als Sohn eines inzwischen verstorbenen evangelischen Pfarrers. Er war in Wewelsfleth ansässig, wo er auch seine kleinere markenfreie Meisterwerkstatt betrieb. Er wohnte in einer kleinen Wohnung, die er sich im Obergeschoss seiner Werkstatt eingerichtet hatte. Uwe Wilkens war eine eher durchschnittliche Erscheinung. Beruflich und persönlich achteten ihn dennoch an seinem Wohnort Nachbarn und Kunden als einen sehr geschätzten Mitbürger. Da er wegen seiner Lungenschwäche – er erlitt von Jugendalter an einige ziemlich heftige asthmatische Anfälle – keinen Wehrdienst leistete, engagierte er sich ersatzweise bei der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr, wo er mit seiner fachlichen Fertigkeit wertvolle Dienste leistete. Eine frühe junge Liebschaft mit der Tochter des Wehrführers endete tragisch, als diese bei einer Segelregatta mit ihrem Boot am Störsperrwerk kenterte und über Bord ging. Trotz intensiver Suchaktion wurde ihre Leiche nicht gefunden. Wahrscheinlich hatte die starke Ebbströmung der Elbe sie hinaus in die Nordsee getrieben.
Das weibliche Opfer im Mégane konnte, obwohl es stark entstellt war und ihm die Finger fehlten, rasch identifiziert werden. Die vierundzwanzigjährige, im marokkanischen Fes geborene Frau namens Saadet Bassir war ortsbekannt. Ursprünglich muslimischen Glaubens, bezeichnete sie sich nach Angaben der Befragten jedoch mehrfach als glaubenslos. Im Alter von fünf Jahren floh ihr Vater aus politischen Gründen aus Marokko. Ibrahim Bassir, von Beruf Schuster, hatte insgeheim gegen die autokratische Herrschaft des Könighauses aufbegehrt. Wegen der Teilnahme an einer Demonstration war er verhaftet und gefoltert worden, konnte aber fliehen und erhielt deswegen hier politisches Asyl. Er fand zunächst Arbeit bei einem Hersteller von orthopädischem Schuhwerk und holte seine Familie nach. Als sich der Inhaber aus Altersgründen zurückzog, übernahm Ibrahim Bassir Werkstatt und Geschäft. Seine Frau Fatima gebar ihm nach Saadet in Deutschland drei weitere Kinder, von denen aber nur eines – Saadets jüngerer Bruder Chalid – am Leben blieb. Als Saadet die Mittelschule beendet hatte und volljährig wurde, verließ sie das elterliche Haus und begann trotz des geharnischten Widerstands ihrer Familie eine Lehre als Restaurationsfachfrau im Oldenmoorer Elbmarschen Hof. Nachdem sie diese erfolgreich abgeschlossen hatte, wurde sie von Sören Backhus, Inhaber des Restaurants Rigmor am Glückstädter Marktplatz, als leitende Serviererin eingestellt. Sie war eine hübsche und immer dezent gekleidete junge Frau, die durch ihre aparte Schönheit und ihren weiblichen Charme auffiel. Abgesehen von ihrer Familie, mit der sie jeglichen Kontakt abgebrochen hatte, wurde sie von allen, die sie beruflich und privat kannten, als hilfsbereit, nett und höflich bezeichnet. Natürlich gab es da einige männliche Wesen, die sie insgeheim mit lüsternen Blicken begehrten, es aber wegen ihrer Herkunft nicht öffentlich wagten, sich ihr zu nähern. Andere, allzu zutraulich oder gar handgreiflich gewordene Gäste konnte Saadet jedoch geschickt abwehren, indem sie laut und für alle im Restaurant hörbar verkündete, dass das unangemessene Berühren des Bedienungspersonals nicht im Menüpreis inbegriffen sei. Einer der Gäste, der häufiger versuchte, sich ihr auch außerhalb des Gasthofes zu nähern, war der Apotheker Dr. Wilfried Heumann, ein etwa sechzigjähriger Witwer. Bei einem wiederholten Versuch verursachte er im Restaurant einen regelrechten Eklat. Er wurde des Lokals verwiesen und Sören Backhus erteilte ihm Hausverbot.
Uwe Wilkens lernte Saadet zwei Jahre nach dem Verlust seiner ersten Freundin kennen. Es war nur wenige Monate vor dem Polterabend seines besten Freundes und Feuerwehrkameraden Bruno Wittkamp. Die Feierlichkeit richtete der Vater der Braut im eigenen Restaurant Rigmor von Glückstadt aus. Silke Backhus, einzige Nachkommin, hatte Köchin gelernt und sich bereits ihre ersten Lorbeeren bei namhaften Gastronomen in Kiel und auf Sylt verdient. Sie sollte in wenigen Jahren das bestens renommierte Gasthaus im traditionellen und zünftig renovierten Kaufmannshaus aus dem Jahre 1692 in vierter Generation übernehmen. Silke und Saadet mochten sich von Anfang an gut leiden und wurden rasch Freundinnen. So geschah es wie von selbst, dass die vier jungen Leute des Öfteren zusammenkamen und ihre Freizeit gemeinsam verbrachten. Es brauchte nicht lange, bis Saadet und Uwe aneinander Gefallen fanden und sich schließlich ineinander verliebten. Allerdings war eine solche Liaison nicht allen alteingesessenen Glückstädtern genehm. Abgesehen von den argwöhnischen Blicken einiger engstirniger, selbst ernannter ›Vaterlandswächter‹, denen grundsätzlich jegliche Anwesenheit von Geflüchteten und Asylsuchenden aus fremden Ländern ein tiefer Dorn im (rechten) Auge sind, waren es nicht zuletzt auch orthodoxe Muslime, die engere Verbindungen einer der ihrigen mit hiesigen Ungläubigen kategorisch missbilligten. Saadet ließ dies jedoch kalt, war sie sowieso bei diesen Leuten wegen ihrer Abkehr von Familie und Religion bereits verdammt und verfemt.