Lust aufs Alter. Peter Scheer
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Gesunde Senioren also, einige Implantate und Brücken im Mund, der Große an der Gallenblase operiert, der Kleine Hämorrhoiden und sonst das Übliche. Beide gut krankenversichert und offensichtlich nicht arm.
Das Gespräch kam auf die Bewältigung des Alters. Ausgelöst hatte es der Kleine, da er ein Buch darüber schreiben wollte, oder, wie er sagte, schreiben müsse, aber auch, weil er seine jährliche Vorsorgeuntersuchung vor sich hatte, die es verhindern würde, mit dem Großen noch zwei Tage in Wien zu verbringen. Sein Arzt sei wunderbar, sagte er. Er nähme ihn dran, obwohl er inzwischen ärztlicher Direktor des Krankenhauses der Elisabethinen in Graz geworden sei, er hieße nicht nur Professor Stark, sondern sei auch wirklich stark und nähme alle Wünsche und Vorbedingungen des Kleinen gütig hin. Er untersuche die Gefäße, die Carotisgabel und das Blut. Der Arzt sei zwar über die horrenden Fettstoffwechselbefunde des Kleinen immer wieder entsetzt, aber sie könnten gut darüber reden. Der Große war gewöhnlich empört, wenn dieses Thema zur Sprache kam. Nie würde er zu einer Vorsorgeuntersuchung gehen, ließe sich weder ins Herz schauen noch ein Rohr in den Hintern schieben. Er wollte auf seine Krankheit warten, dann wäre seiner Meinung nach noch immer Zeit genug, zu einem Arzt zu gehen.
Diesmal aber geschah fast ein kleines Wunder: Der Große machte dem Kleinen keine Vorhaltungen, dass er zu Gesundenuntersuchungen gehe und ein Buch über das Altern schreiben wolle, und der Kleine versuchte nicht den Großen zu überreden, sich untersuchen zu lassen. Sie ließen sich gegenseitig sein, wie sie sind, was selten vorkam.
So ging das Gespräch weiter: Was tun, wenn einer der beiden durch Krankheit oder Altersschwäche entweder der Frau oder den Kindern zur Last fallen würde oder in ein Alters- oder Pflegeheim müsse? Der Große war da ganz eindeutig: Er würde sich umbringen. Er konnte den Überlegungen des Kleinen zur Altenpflege zwischen Schuldgefühl und Aggression (wie sie den Backbone dieses Buches ausmachen) einfach nichts abgewinnen. Die Mutter des Großen war früh, mit siebenundsechzig Jahren, in nur drei Monaten an einem Pankreaskarzinom gestorben, der Große war drei Tage vor ihrem Tod weggefahren, er konnte es nicht mitansehen.
Der Vater des Großen kam ohne seine Frau schlecht zurecht. Er nahm gegen viele Beschwerden Schmerzmittel, die seine Nieren angriffen, dann ließ er sich an der Prostata operieren und wäre an den Folgen der Operation fast gestorben, vielleicht auch, weil er wieder zu viele Schmerzmittel nahm. Er erlitt einen Schlaganfall und lebte gerade noch lange genug, um von seinem jüngsten Sohn und der Schwiegertochter aus dem Haus geworfen zu werden. Er zog in eine kleine Wohnung, wo eine Philippinin nach ihm sah und wo er, besucht nur von des Großen zweiter Frau, dann auch starb.
Des Kleinen Vater war mit vierundsechzig gestorben, er hatte die Weihnachtsfeiertage, die er hasste, mit Essen und Trinken verbracht. Zur Verbesserung seiner sexuellen Fähigkeiten hatte er noch eine Messerspitze Strychnin genommen, und so erlag er seinem zweiten Infarkt.
Der Kleine hatte sein ganzes Leben mit seiner Mutter verbracht. Da seine Schwester mit neunundvierzig Jahren gestorben war, waren er und die Mutter noch mehr ein Paar geworden, als sie es ohnedies immer schon gewesen waren. Er hatte mit der Mutter Urlaube gemacht, zuerst eine Safari in Kenia, dann einen Wochentrip nach New York, vierzehn Tage Bali, Karibikkreuzfahrt und zuletzt noch eine Kreuzfahrt im Mittelmeer. Sie waren ein Paar und er wollte nicht, dass er sich einmal würde vorwerfen müssen, nicht beizeiten alles mit ihr unternommen zu haben. Er war natürlich auch ihr Arzt und betreute sie mal besser, mal schlechter. In den Zeiten, in denen seine Mutter im Sommer Angst vor dem Alleinsein gehabt hatte, gab es schon Auseinandersetzungen mit seiner Frau, die sich nicht jeden Urlaub durch die Trennungsangst ihrer Schwiegermutter „zerstören“ lassen wollte. Jedenfalls hatte die Mama die letzten zwanzig Jahre mit ihm und seiner Familie gelebt. Vor einem Jahr war sie nach einem Schlaganfall gestorben.
„Was für eine Frechheit, den Kindern zur Last zu fallen“, hob der Große an. Er liebte die Provokation, er fuhr gern mit dem glühenden Schwert ins eigene und noch lieber ins Herz des Kleinen. So konnte der Dialog beginnen. Selbstmord war einmal ein Spezialgebiet des Kleinen gewesen, er hatte bei dem von der Presse so bezeichneten Selbstmordpapst Österreichs, Erwin Ringel (1921 – 1994), gelernt und war über vier Jahre dessen Stellvertreter an der Medizinischen Fakultät der Uni Wien gewesen. Der Kleine zweifelte an der Fähigkeit der meisten Menschen, sich als Pflegebedürftige umzubringen. Seine Mama wollte sich sechs Tage vor ihrem Tod – mit ihm sprach sie da kaum noch – umbringen. Zuerst bat sie ihren Sohn um Hilfe, dann den praktischen Arzt, der sie betreute. Der Sohn verweigerte die Mithilfe am Selbstmord mit dem Hinweis auf die Erinnyen, die ihn dann verfolgen würden, und außerdem sei er fürs Leben da und nicht für die Mithilfe zum Selbstmord. Der praktische Arzt, Dr. Gustav Mittelbach, Gründer und Betreiber des Sozialmedizinischen Zentrums in Graz und fast ein Freund der Familie, lachte, als die Mutter des Kleinen ihn um Sterbehilfe bat: „Nehmen Sie doch all die Medikamente, die sie hier herumliegen sehen, Frau Scheer.“ Daraufhin beschloss die Mama, nicht mehr zu reden, mit niemandem, nicht mehr zu essen, nicht zu trinken – was zum selben Ergebnis führte, nur langsamer und quälender.
„Man muss es sich jetzt, also beizeiten, herrichten“, das war wieder der Große. Der Große ist gelernter Pharmazeut, der Kleine Arzt. Man einigte sich daher auf Diazepam (Valium) und Midazolam (Dormicum) als Einstiegsdroge und Phenobarbital (Luminal) als Tötungsmedikament. Der Kleine wollte gelesen haben, dass auch die Schweizer Todesagenturen Luminal1 als Tabletten verwenden. Außerdem hatte es für Marylin Monroe gereicht, also würde es auch für sie reichen. Zwar nahm der Große immer wieder ziemlich viel Diazepam ein, wenn er einen Jetlag hatte, und der Kleine trank gern Alkohol, sie müssten daher die Dosis diesem Umstand anpassen. Zwei bis drei Gramm pro Kopf würden ausreichen.
Aber wann genau wäre der Schlussstrich zu ziehen? Dann, wenn man sich den Kindern ausliefern müsste, wenn man nicht mehr Auto fahren oder telefonieren könnte, oder erst, wenn man unerträgliche Schmerzen bekäme? Wann würde der rechte Zeitpunkt gekommen sein, wann verlöre man die Freude am Leben, wann gäbe man die Hoffnung auf? Woher, so wandte der Kleine ein, kämen dann die vielen Alten, die sich von Pflegerinnen zum Beispiel in Israel, wo man das allenthalben sähe, im Winter mit dem Rollstuhl in die Sonne, im Sommer in den Schatten schieben ließen? Woher kämen die Alten, die ihre Ersparnisse für diese Pflegerinnen ausgäben, weder Stuhl noch Harn mehr halten könnten und dann mit versiegender Stimme den uninteressierten Philippininnen Vorträge über die Erkenntnisse eines langen Lebens hielten, die sich ihre Kinder nicht anhören wollten? Wieso lebten die noch? Hatten die nur den richtigen Zeitpunkt übersehen?
Der Kleine kannte Beispiele ohne Zahl. Der Große war so sehr mit der durch ihre Oberflächlichkeit gekennzeichneten amerikanischen Kultur verwachsen, dass es ihm erst während des Gesprächs auffiel, dass einer seiner Tennispartner vor Wochen erkrankt war und er sich nie erkundigt hatte, wie es um ihn stehe. Er war, wie er sagte, kein Helfer. Der Kleine hatte seinen Großonkel in Israel immer wieder besucht, der mit fast neunzig in ein Altersheim gekommen war. Acht Jahre wartete er dort auf seinen Tod. Er sagte einmal zum Kleinen, dass das seine schwerste Aufgabe sei. Wie bereits in meinem Buch „Taubenfüttern ist nicht genug“2 beschrieben, hatten sie ihm ohne Indikation einen Harnkatheter eingeführt, der zu wiederkehrenden Infektionen und zu dauerndem Harndrang führte. Man hatte ihn dann zu wickeln begonnen, so dass er wund wurde, zuletzt hatte man die Bettdecke so festgezurrt,