Lust aufs Alter. Peter Scheer

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Lust aufs Alter - Peter Scheer

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gelernt hatte. Wieso hatte er den richtigen Augenblick verpasst und musste nun Tag für Tag in dem stinkenden Aufenthaltsraum sitzen und kleine Plastikperlen auf Schnüre fädeln, die dann wieder in eine Schale gegossen wurden?

      Das Gespräch im Restaurant wurde hitziger und nachdenklicher zugleich. Jetzt, da sie beide in Pension waren, konnten sie es sich besser vorstellen, bösartigen Menschen ausgeliefert zu sein. Der Kleine erinnerte sich an die Betreuungsmannschaft Izius, die in einer Ecke des Aufenthaltsraums Kaffee trank und den Alten in den Rollstühlen zusah, wie sie miteinander zu sprechen versuchten oder wie Strafgefangene sinnlose Arbeiten ausführten. Beschäftigungstherapie vor dem Mittagessen nannte man das. Iziu fand das entwürdigend; er war zwar blind, aber noch hell im Kopf und hätte lieber mit jemandem gesprochen, anstatt Plastikkugeln aufzufädeln. Wie es seine Art war, machte er niemandem Vorwürfe, auch nicht seiner Tochter, die ihn dorthin gebracht hatte statt ihn in ihrem Haus aufzunehmen, das sie mit seinem Geld gebaut hatte und in dessen Untergeschoß die Mutter ihres Mannes lebte (die allerdings auch nur einmal alle Wochen in das Obergeschoß kommen durfte). Er versuchte sich einfach aufzulösen, aber sein über all die Jahre gut trainierter Körper und das wenige Essen, das er immer zu sich genommen hatte, ließen ihn fast hundert Jahre alt werden. Worauf hat er sich noch gefreut? Auf die Besuche der Tochter, die Besuche seiner Enkelkinder und deren Kinder? Wieso hatte er nicht eine ausreichende Anzahl Tabletten geschluckt, als er seine Wohnung hergeben musste und seine Tochter und der Schwiegersohn ihn ins Heim brachten?

      Joachim Fuchsberger (1927 – 2014) hat ein Buch übers Alter geschrieben: „Altwerden ist nichts für Feiglinge!“ (Gütersloher Verlagshaus, 2011). Darin erklärt er, wie schwer es ist, alt zu werden und zu sein. Der Schlussfolgerung Fuchsbergers, dass man nämlich Mut zum Altwerden brauche und dass es dann Spaß mache, können sich die beiden Herren im Zermatter Restaurant nicht anschließen. Was soll denn daran Spaß machen? Die in Kaffee eingetunkte Semmel, die man mit den dritten Zähnen zermalmt? Oder der Blick auf die Berge, die man einst bestiegen und dann mit Skiern befahren hat? Das soll ein Vergnügen sein?

      Joachim Fuchsberger hat in dem Film „Die Spätzünder“ (2010) mitgespielt. In einem Altersheim sieht man, wie die Alten trotz der furchtbaren Betreuung durch eine repressive Chefin Freude am Leben und am Singen mithilfe eines Künstlers, welcher wegen Drogenbesitzes zu dieser Art Sozialdienst verurteilt wurde, haben. Die Insassen sind Reiche und Gebildete. Abgeschoben von ihren Kindern und einem Regime ausgeliefert, das an ein nobles Straflager erinnert, finden sie sich zu einer heimlich probenden Kapelle zusammen und treten mit dem Lied „Live Is Life“ der steirischen Rockband Opus auf. Sie sind glücklich.

      Das Leben neigt dazu, Märchen nicht wahr werden zu lassen. Genau durch solche Fantasien und Träume retten sich die Alten über den richtigen Moment des Abtritts hinweg und unterstützen ihre Todesangst durch die Regeln der Religionen, die Selbstmord verbieten. Die im Alter zunehmende Feigheit, da sind sich die Freunde einig, verhindert den Suizid und lässt ehemals nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu behinderten Krüppeln werden, die sich einreden, dass sie nun für ihr Streben und ihren gesellschaftlichen Beitrag entgolten werden. Welch ein Irrtum! Sie machen weder sich noch ihrer Umgebung Freude.

      Jean Améry (1912 – 1978) hat in seinem Buch „Über das Altern“ (1968) seinen Selbstmord für den Zeitpunkt angekündigt, an dem er nicht mehr Herr seiner Selbst sein würde. Ich erinnere mich an seinen Vortrag, den eines traurig gewordenen Linken, der an der Entwicklung der Politik, an dem wiederaufflammenden Antisemitismus und an der Welt verzweifelte. Er war nicht im eigentlichen Sinn depressiv. Erwin Ringel, der ihn zu dem Vortrag eingeladen hatte, sagte mir, dass zwei Gründe zu dessen baldigem Ende führen würden: die Enttäuschung über die Verarbeitung der Nazidiktatur einerseits und die ständigen Fragen von Journalisten und naiven Studenten, wann er, Jean Améry, sich nun endlich das Leben zu nehmen gedenke. Ringel hatte recht. Hans Mayer, der sich nach dem Krieg Jean Améry nannte, nahm sich das Leben.

      Beispiele fallen unseren Freunden viele ein. Doch plötzlich wird der so schnell gefasste Beschluss noch einmal reflektiert: Wann und wie soll es geschehen? Wer wird das Startsignal geben? Wäre der jeweils andere imstande, die Lebenstüchtigkeit zu beurteilen und das Todesurteil auszusprechen? Würde man sich an dessen Urteil halten oder, wie es in dieser Freundschaft schon manchmal vorkam, eine „Pause“ machen, den anderen verraten? Einfach, weil man Angst hat, Angst vorm Sterben, Angst vorm Grab, Angst vor der Unendlichkeit.

      Sie können dieses Buch so verstehen: Es wird Ihnen keinen Rat geben, der sie am Leben hängen lässt. Es wird Sie nicht bestärken, Diät zu halten, weil Sie dadurch länger leben. Es wird Ihnen nicht raten, sich für schlechte Zeiten einen Notgroschen zurückzulegen, aber es wird Ihnen empfehlen, auf sich zu schauen. Ungefähr so: Verbrauchen Sie sich, verschwenden Sie sich und das Ihre und Sie werden keine Erben zurücklassen, die sich streiten müssen – denn es wird nichts geben, worum sie sich streiten können. „Verbrauchen Sie sich und das Ihre“ heißt aber auch, dass Sie nicht warten, bis einschränkende Erkrankungen wie Morbus Parkinson kommen oder Ihre Knie nicht mehr das tun, was Sie wollen. Vielmehr ist es ein Buch, das Sie auffordert, die Freuden des Pensionistendaseins zu genießen und abzutreten, bevor es zu spät ist. Das wird nicht dann sein, wenn sie ein Hörgerät brauchen – aber dessen Besitz sollte Sie vom Opernbesuch abhalten, weil sie „es“ nicht mehr hören. Das wird auch nicht dann sein, wenn Sie einen Stock brauchen, aber der sollte Sie vom Berggehen abhalten, weil sie für sich und andere zur Gefahr geworden sind. Sobald Sie aber in den Rollstuhl kommen, sollten Sie darüber nachdenken, was Sie noch erwarten können und was Sie noch machen wollen.

      Die Grenze für meine Mama war die selbstkontrollierte Ausscheidung.

      Darauf können sich die Freunde auch einigen: Wenn sie gewickelt werden müssen, aber die Hand noch bewegen können, dann würden sie das Medikament nehmen. Die Frage, ob es nicht besser wäre, unter einer Plombe Zyankali einzubauen, wie es die SS-Führer taten, lassen sie offen. Hermann Göring (1893 – 1946) hat draufgebissen, Rudolf Heß (1894 – 1987, die letzten vierzig Jahre verbrachte er im Kriegsverbrechergefängnis Spandau) nicht. Dieser entzog sich der Hinrichtung, jener wurde zu einem Symbol des Siegerrechts. Zwei Karrieren angesichts eines unverstehbaren Verbrechens. Also, da sind sich die Freunde einig – für eine Zyankalikapsel sind sie eine Nummer zu klein. Was sie jetzt wissen und besprochen haben, bleibt: Sie werden sich beobachten und zu verhindern versuchen, was verhindert werden muss: das Siechtum des Alters, das den fröhlichen Pensionisten langsam verderben lässt.

      Wer die Pension erfunden hat, ist mein Freund! Zufällig weiß ich, wer das war: Reichskanzler Otto von Bismarck (1815 – 1898), vor dessen Denkmal am Großen Stern in Berlin ich immer eine Gedenkminute abhalte. Nicht, dass ich nicht vorher die Verdienste Bismarcks für die Vereinigung des Deutschen Reichs würdigte, nein, wirklich dankbar bin ich ihm wegen der Allgemeinen Krankenversicherung, vor allem aber der Pension. Er wollte mit diesen Maßnahmen den Sozialismus verhindern. Mit gutem Augenmaß hat er sie berechnet: Damals – also nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 – war die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer – und nur diese arbeiteten im Sinne des Lohnerwerbs – sechsundsechzigeinhalb Jahre. Also sagte der Reichskanzler paraphrasiert: „Dann sollen die Menschen mit fünfundsechzig in Rente gehen, dann haben sie noch eineinhalb Jahre, in denen sie sich ihrer Familie widmen, ihre Dinge ordnen und so einen friedlichen Lebensabend genießen können.“ Denn das Wort Lebensabend kommt von daher, dass es sich nicht um einen dritten Lebensabschnitt handelte, wie man das heute oft sieht, sondern eben um einen „Abend“, an dem die letzten Wochen und Monate verbracht wurden, noch so weit gesund, dass man sich um seine Angelegenheiten kümmern konnte, um sich dann auf den Weg ins Grab zu machen.

      Wie anders ist das heute. Man spricht von der dritten Phase (in welcher der Autor sich jetzt befindet), in der man im Grunde noch alles kann: Ski fahren, reisen, lieben, neue Dinge erlernen, wie zum Beispiel Computer und Tablets bedienen, und sogar Freude am Geldausgeben hat und – so es gut gegangen ist – an der Frau oder dem Mann, mit dem bzw. der man

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