Lust aufs Alter. Peter Scheer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Lust aufs Alter - Peter Scheer страница 7
Ich durfte mir fast vierzig Jahre lang einreden, nützlich zu sein. Ich war Kinder- und Jugendfacharzt, behandelte Kinder und junge Menschen und es schmeichelte mir, wenn Eltern und Kinder mir ein gutes Zeugnis ausstellten. Sogar Wissenschaft durfte ich betreiben, Studenten ausbilden und die Fachliteratur um ein paar hundert Seiten bereichern. Ich war, so dachte ich, der Inbegriff der Nützlichkeit. Ich half in der Standespolitik und änderte mehrere Gesetze im Sinne der Kinder und ihrer Familien. Es war wirklich toll. Vielleicht habe ich meinen Rüssel vollgekriegt, wurde satt an Nützlichkeit und glaube daher, sie nicht mehr so dringend zu brauchen.
Das ist gut so. Wenn es bei Ihnen aber anders ist, wenn Sie nicht nützlich waren oder es sich nicht so gut haben selbst einreden können oder einreden lassen, dann machen Sie sich keine Hoffnungen: Jetzt werden Sie es sicher nicht mehr. Wozu auch? Der Friedhof ist übervoll von Nützlichen, die sich zudem auch noch für unersetzbar hielten. Sie hatten Termine und Gespräche, Bedeutung, die Sie sich gaben oder die man Ihnen gab. Sie schienen wichtig zu sein. Dann gingen Sie und es war, als wären sie nie da gewesen.
Ich erinnere mich, dass ich einmal bei einer Patientin, acht Jahre alt, auf Bitten ihres Vaters, den ich flüchtig kannte, im Nachtdienst ins Krankenzimmer kam. Die Krankheit – juveniles Rheuma – galt als bekannt und wurde fachgemäß von der Spezialistin des Hauses diagnostiziert und behandelt. Aber das Mädchen wurde nicht gesund. Die anerkannte Kollegin hatte sich geirrt. Ich empfahl lediglich die Vorstellung in einer Spezialklinik in Garmisch-Partenkirchen, wo eine Sonderform gefunden und sie geheilt wurde. Heute ist sie eine zwanzigjährige Frau ohne Behinderung. Ich ging mit stolzgeschwellter Brust hinaus und wuchs noch einmal zehn Zentimeter, als mich der Vater anrief und sagte, dass ich geholfen hätte.
Komisch, die Klinik, an der ich arbeitete, steht und funktioniert auch ohne mich. Die Kranken werden versorgt und alle Patienten und deren Eltern, die mir schmeichelten, dass es ohne mich schlechter sei, dass ich ihnen und ihrer Familie so wichtig wäre – sie kommen jetzt ohne mich aus. Kinder leiden, werden gesund, manche werden kränker, manche sterben – alles geht seinen normalen Gang. Freunde sagen mir, dass die Klinik ohne mich zugrunde ginge. Das erinnert mich nur an einen alten Witz aus meiner kommunistischen Studentenzeit.
Ein Genosse des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wird nach New York geschickt, um den Kapitalismus zu beobachten. Er bleibt über die ausgemachte Zeit von vier Wochen in New York, bereist dann noch die gesamte USA und erreicht schließlich Hollywood, von wo er vom lokalen NKWD (Geheimdienst der Sowjetunion) schleunigst in ein Flugzeug in die UdSSR verfrachtet wird. Angekommen, befragen ihn die Genossen, wie es gewesen sei, was er gesehen habe. „Genossen“, hob er an und seufzte, „der Kapitalismus liegt im Sterben! Der Kapitalismus ist tot! Nur der Sozialismus lebt!“ Erfreut lehnen sich die Genossen, die wegen der langen Abwesenheit ihres ZK-Mitglieds schon skeptisch geworden waren, zurück. „Aber ich sage euch, Genossen: Was für ein Tod!“, fügt der Zurückgekommene noch hinzu. Das war sein Todesurteil.
Wie kommen Sie darauf, dass es ohne Sie schlechter gehen würde? Wie erklären Sie sich Drohungen älterer Menschen wie: „Werdet’s schon sehen, wenn ich nicht mehr bin!“ oder „Schauts nur, wie ihr das ohne mich macht!“. Anders werden sie es machen, und Sie können – wenn sie noch die Phase vier erreichen – ihnen sogar dabei zusehen. Wie viel Leid könnte verhindert werden, wenn die Alten es nicht immer besser wüssten und wenn sie den Jungen nicht im Wege stünden. Was zählt Ihre Erfahrung? Nichts. Erfahrung, so sagt der erfreulicherweise mit mir befreundete Univ.-Prof. Dr. I. D. Mutz, einer der besten Kinderärzte Österreichs, ist etwas für Leute, die nicht lesen können. Denn die anderen haben begriffen, dass das Wissen der Menschheit aufgezeichnet wurde und so allen zur Verfügung steht, die keine Analphabeten sind. Also auch Ihnen, wenn Sie das gerade lesen. Niemand gibt irgendwas auf Ihre Erfahrung, niemand braucht sie; sie ist meist aus einer anderen Zeit. Schön, wenn sie andere Alte treffen, die sich noch an das Vierteltelefon erinnern und daran, wie es war, wenn man keinen Schilling eingesteckt hatte und zu Hause anrufen musste, weil man den Zug oder den Bus versäumt hatte. In Zeiten der Mobiltelefonie ist das so aktuell wie die Hellebarde des mittelalterlichen Ritters. Historisch lustig, für Sie eine nette Erinnerung, aber nichtsdestotrotz unwichtig. Ebenso ist es verzichtbar zu erfahren, wie Sie Ihre Kinder aufgezogen haben. Sie haben eine Wirtschaftswundergeneration aufgezogen, die eine aus den Zerstörungen des Krieges auferstehende Wirtschaft möglich gemacht hat. Alle Kräfte waren gefragt. Meine Generation war so zahlreich, weil Platz war. Heute sind zu viele da. Vieles ist ersetzbar. Die „Märkte“ sind zu einem kaum steuerbaren Individuum geworden, das selbst Finanzfachleute nur ansatzweise verstehen. Viele Tätigkeiten wurden durch Maschinen ersetzt und es gibt deshalb keinen Brockhaus, kein fünfzig Bände umfassendes Nachschlagwerk mehr, weil alle Informationen über das Internet verfügbar sind. Man braucht es schlicht nicht mehr, es ist unnötig geworden. Wie schön!
Daher sind Ihre Erfahrungsberichte über die Schwierigkeiten der Recherche zu Ihren Zeiten so bedeutend wie alle Geschichten, die Ihre Kindheit, Jugend, Adoleszenz und Erwachsenenzeit betreffen. Ihre Kinder gehen mit den eigenen Kindern anders um. Vielleicht besser, vielleicht bereiten sie diese auf eine andere Welt vor, in der andere Anforderungen auf diese Kinder warten. Vielleicht machen sie es richtig, wenn sie die Kinder verwöhnen. Vielleicht machen sie es richtig, wenn sie ihnen beibringen, nichts zu essen, was ihnen nicht schmeckt. Vielleicht soll es so sein und sie bereiten ihre Kinder auf eine Überflussgesellschaft vor, die diese nur so und nicht anders kennen. Dass Sie noch mit dem Befehl aufgewachsen sind, alles aufzuessen, was auf den Tisch kam, war das Ergebnis eines extremen Mangels vor und im Krieg, den Ihre Eltern erlebt hatten. Deswegen sind Sie heute vielleicht übergewichtig und essen mehr, als Ihnen guttut. Vielleicht haben Sie wahrgenommen, dass es wunderbar ist, ein Auto zu haben, und dass es schön ist, überall hinfahren zu können. Ihre Kinder wissen aber, dass die fossilen Energien begrenzt sind und dass es daher – auch aus gesundheitlichen Gründen – besser ist zu gehen. Daher werden sie ihre eigenen Kinder auf Fahrrädern mitnehmen und zum Gehen anhalten und dabei verwöhnen und eventuell sogar tragen, obwohl sie den Kinderwagen dabei haben. Sie werden das Kind im Tragetuch haben und nebenher den Wagen schieben und hoffen, dass sie das Kind in den Wagen legen können, wenn es eingeschlafen ist. Vergleichen Sie das nicht mit der Art, wie Ihr Kind aufgewachsen ist. Es war eine andere Zeit und Sie können stolz sein, wenn Sie das Kind so großgezogen haben, dass es für die Zeit, in der es nun selbst Erziehungsaufgaben wahrzunehmen hat, diese auch wahrnehmen kann. Das ist alles.
Eine kleine Geschichte dazu: Ein Vogelvater erkennt, dass er seine Kinder retten muss. Der zu einem reißenden Strom angewachsene Fluss droht das Nest hinwegzuschwemmen. Die Kleinen können in dem Sturm und über die tosenden Wogen noch nicht hinwegfliegen. Also nimmt der Vater eines nach dem anderen in den Schnabel und fliegt über den Fluss. „Wirst du mich auch einmal retten, wenn ich alt und schwach bin?“, fragt er das Erste. „Nein“, antwortet dieses. Er lässt es fallen. Ebenso ergeht es dem Zweiten. Das Dritte aber antwortet: „Nein, aber ich werde meine Kinder ebenso retten wie eben du mich!“
Das ist die richtige Antwort. Es geht um die Sicherung des Genoms, des Überlebens der Art. Dafür sind wir ausgestattet, das ist es, was wir tun müssen, auch wenn es schon zu viele Menschen gibt.
Wenn Sie in meinem Alter sind, haben Sie Ihre „Aufzuchtspflichten“ erfüllt. Die Kinder sind groß, haben ihr eigenes Leben und ihre eigenen Vorstellungen. Ihnen zuzusehen reicht völlig, und liebevoll da zu sein, sollten sie einen doch noch brauchen. Ihnen Geschichten zu erzählen, um ihnen zu sagen, wie sie es besser machen könnten, ist verzichtbar und macht nur böses Blut. Den Geschichten der Kinder zuzuhören hingegen