Lust aufs Alter. Peter Scheer
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Während ich nun die Regeln für den fröhlichen Pensionist fast fertig habe, klingt mir im Ohr, was Günther mir zum Abschied sagte, bevor er mit seinen Schülern zum Schwimmen ging: „Ich habe noch nie so was gemacht, einfach mit einem Freund auf ein Wochenende Ski fahren zu gehen, ohne dass es für jemanden war oder einen Nutzen oder Sinn hatte.“ Klar, Günther ist zwanzig Jahre jünger und erkennt erst jetzt, dass das Leben so oder so vorbeigeht.
Es gibt allerdings das Bedürfnis nach Beachtung, das der an sich guten Idee des langsamen Vergehens einen Riegel vorschiebt, das Bedürfnis nach einer Bühne, danach, dass einem zugehört wird – privat und öffentlich. Fragt man sich, warum sich Menschen in Fernsehshows zeigen oder im Rundfunk Interviews geben, ist die Antwort immer die gleiche: Sie wollen gesehen und beachtet werden.
Alte Menschen haben dazu einige Möglichkeiten: Sie können karitativ tätig werden, können sich Vereinen anschließen, sich um ihre Nachkommen kümmern oder – und das kommt leider allzu häufig vor – untereinander auf alles und jedes schimpfen und sich über die heutige Zeit, die heutige Jugend und die aktuelle Politik aufregen. Das zuletzt genannte Verhalten wäre reine Verschwendung der ohnedies versiegenden Lebenskraft. Dass der Mensch offenbar unfähig ist, ohne Beachtung zu leben, stimmt ein wenig traurig. Langsames Verglimmen scheint fast unmöglich, denn die Eitelkeit und der Wunsch nach Beachtung sind einfach zu groß.
Was tun? Es ist die Schere, die sich zwischen Wissen und Praxis auftut. Einerseits weiß man, dass man unnötig geworden ist, andererseits sucht man sich Bühnen. Absolut verbieten sollte man sich aber Jammern, Besserwisserei und Altklugheit, die sich im Erzählen von Geschichten aus der „guten alten Zeit“ äußert.
Als sich Österreich nach zwölf Jahren entschloss, die EU-Richtlinie zum Arbeitszeitgesetz umzusetzen, durften ab 2015 Ärzte „nur“ mehr achtundvierzig Stunden pro Woche arbeiten. Österreich hat zwar immer um Aufschub ersucht, aber die so gewonnene Zeit nicht zur Vorbereitung genutzt. In einer Diskussion in der Senior-Exzellenz-Akademie der Medizinischen Universität Graz berichtete ein dreiundsiebzigjähriger Chirurg, dass er selbst immer die Nacht durchoperiert und danach fröhlich weitergearbeitet habe. Er schlug ein Lebensarbeitskonzept in dem Sinn vor, dass man zum Beispiel ab dem fünfunddreißigsten oder vierzigsten Jahr nach dem Nachtdienst nach Hause gehen könne, aber nicht, wie neuerdings, müsse. Gute Idee. Nur zu spät. Die Regelung war vor fünfzehn Jahren geschaffen worden. Das heißt, der Professor hätte sich damals in diesen europaweiten Prozess einbringen und seine Erfahrungen darlegen müssen, um die Arbeitszeitregelung in seinem Sinn zu beeinflussen. Da er das nicht getan hat, ist es so gekommen, wie es gekommen ist. Jetzt haben seine Vorschläge nur einen Sinn: eine Bühne zu betreten (und sich dabei lächerlich zu machen).
Heinrich Mann (1871 – 1950) hat in seinem Roman „Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen“ (1904) so ein Lächerlichwerden eines alten Mannes auf extreme Weise geschildert. Josef von Sternbergs 1930 entstandener Film „Der blaue Engel“ nach Manns Roman, in dem Emil Jannings von Marlene Dietrich zutiefst gedemütigt wird, zeigt, was passiert, wenn man als Alter auf eine Bühne kommt, die man nie betreten hat oder längst hätte verlassen sollen. Zuletzt wird aus dem honorigen Professor der deutschen Kleinstadt der dumme August. Seine Rolle besteht darin, in einem schlechtsitzenden Kostüm auf der Bühne zu stehen und von seiner jugendlichen Geliebten ein Ei am Kopf zerschlagen zu bekommen. Das Ei rinnt ihm den Kopf hinunter, die ehemaligen Schüler johlen, zerstört wankt der Greis hinter die Kulissen. Wer das je gesehen hat, verliebt sich als Alter nicht in eine junge Varieté-Darstellerin und gibt den Clown auf der Bühne.
In einem Bestseller des Jahres 2004, „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier, findet sich ebenfalls ein Lehrer der klassisch-philologischen Fächer Latein und Griechisch. Nach der flüchtigen Begegnung mit einer Frau auf einer Brücke in Basel lässt er alles liegen und stehen und macht sich auf die Suche nach dem Leben. Er findet mehr, als er sucht. Geheimnisse und Aufregungen, die ihn weiter führen, als er je zu träumen wagte.
Beide Romane zeigen: Es gibt keinen Weg zurück, weder in die Einfachheit noch in die Sicherheit der geachteten Position eines Gymnasiallehrers. Den Hintergrund der beiden Romane, so könnte man vermuten, bildet auch die berechtigte Angst, was die beiden Junggesellen in der Pension machen werden. Übersetzungen für Museen? Nachhilfestunden geben? Mit Hut und Mantel auf den Markt gehen und ehemalige Schüler, die nun Karriere gemacht haben, grüßen, Mitglied im Schachklub oder beim Männerbund Schlaraffia werden?
Denn eines gilt es nicht zu unterschätzen: das Bedürfnis nach Beachtung bleibt stark wie der Wunsch, gestreichelt zu werden oder sich geliebt zu fühlen und Anerkennung zu finden. Wer sich einredet, das nicht mehr zu brauchen, belügt sich und wird meist bitter. Sehen Sie sich nur die Leserbriefe zu Zeitungsartikeln an, dann wissen Sie, was ich meine. Sollten Sie selbst solche Briefe schreiben, kann ich Ihnen nur raten, sich schleunigst eine Bühne zu suchen, mag sie auch noch so klein sein. Selbst wenn Sie im Kaffeehaus Meinungen austauschen und sich dabei ertappen, die Zeitungsartikel und -kommentare der letzten Zeit wiederzugeben – alles immer noch besser, als nicht beachtet zu werden.
Gründe für diese Situation gibt es viele: die Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen in den Städten, die dann in Kleinwohnungen allein leben; die Auflösung der Mehrgenerationenfamilie; die frühzeitige Beendigung der Erwerbstätigkeit; der Jugendwahn mit der Folge, dass es immer weniger Platz für Ältere in der Gesellschaft gibt; die Besetzung der Senate mit aktiven, erwerbstätigen Menschen (statt mit „Alten“, wie der Name nahelegt); die Auflösung der Religionen im Alltag der westlichen Gesellschaften; die Versorgung mit Pensionen und Renten, die eine Erwerbstätigkeit unnötig machen (und so die Bühne des Berufslebens schließen); nicht zuletzt die hohe Scheidungsrate. Das Ergebnis: Fast gesunde und noch aktive Alte haben keine Bühne mehr und schimpfen, einsam geworden, nur noch vor sich hin.
Nicht nur, dass Sie die Schimpfenden meiden müssen, um gesund zu bleiben, sie sollte für sie auch Anlass sein, sich eine Bühne zu suchen.
Sie sind unwichtig
Leider ist es mir schon seit meiner Kindheit unverständlich, wie Menschen sich selbst so ernst nehmen können. Mit der ersten Todesangst, dem Wahrnehmen, dass ich sterblich bin, hat mich die Fähigkeit verlassen, mich ernst zu nehmen. Dazu kam noch, dass Menschen in meiner nächsten Umgebung lebten, welche die Besten beim Hinscheiden beobachtet hatten. Meine Kindheit war voll von Geschichten über die Shoah5 und es waren so viele hervorragende Gestalten, wie der Kinderarzt meiner Mama, Prof. Knöpfelmacher, deren Opfer. Sein Bild sah ich in jenem Spital, in dem ich als junger Turnusarzt meine Ausbildung begann, er war für mich ein Vorbild. Er ging am 23. April 1938 in den Tod, der wohl so freiwillig nicht war. Er, der als einziger Arzt die Tuberkulose meiner Mama sofort erkannt hatte, er, der das von Julius Tandler gegründete Karolinen-Kinderspital leitete, er mit all seinen Verdiensten und seinem Abstand zur jüdischen Religion. Aber diese Zugehörigkeit durch Geburt war sein Todesurteil, entehrt wollte er nicht leben und wohl auch nicht in einer Zeit, die nur das Leben einer selbstdefinierten Herrenrasse als wertvoll ansah. Viele Kinderärzte, die den Nationalsozialisten dienten und Kinder auf alle möglichen Weisen ums Leben brachten, hätten sich an ihm ein Beispiel nehmen sollen. Stattdessen wurden sie zu Mördern. In Wien waren von zirka achthundert Kinderärztinnen und Kinderärzten plötzlich nur mehr etwa hundert übrig, weil fast neunzig Prozent von ihnen Jüdinnen und Juden im Sinne der Rassengesetze waren.
Es kommt aber noch schlimmer: Nicht nur die Tatsache, dass sie sterblich sind, nicht nur die Erfahrungen, dass Menschen andere Menschen ermorden, macht sie unwichtig, nein, sie sind auch unwichtig, weil es ohne sie ebenso gut gehen würde. Vielleicht sogar noch ein bisschen besser. Sie stehen nämlich im Weg. Das Raumschiff Erde hat inzwischen so viele Kopien der Spezies Mensch, dass viele Tier- und Pflanzenarten