Lust aufs Alter. Peter Scheer

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größten Bauernmarkt der steirischen Landeshauptstadt Graz, dem Kaiser-Josef-Markt, arbeiten fast nur Pensionisten der Phase drei bis vier. Sie kommen frühmorgens, meist um 5.20 bis 6.30 Uhr, bauen mithilfe eines Enkels oder des Platzbetreuers den Stand auf, frühstücken warm angezogen einen heißen Kaffee, für den sie eine eigene Tasse mitgebracht haben, verkaufen Obst, Hühner, Eier, Gemüse, Selbstgebackenes, Fleisch und Wurst und sogar Fische. Der Rücken schmerzt und die Beine wollen nicht mehr so recht. Sie sind eine unverzichtbare Kraft in der häuslichen Landwirtschaft, ohne sie wäre das Familieneinkommen geringer. Es ist dies aber nicht der Sinn der Pension, wie Bismarck sie sich vorgestellt hat. Ihm zufolge bereitet sich der ideale Pensionist auf das Sterben vor. Dieser ist, dem Wortwitz sei es geschuldet, fast ausgestorben.

      Während ich dies schreibe, ruft mich ein relativ neuer Freund an. Meine Apple-Sammlung hat seit einiger Zeit die Funktion, dass das Telefon sowohl auf dem Tablet, meinem McBook Air als auch auf meinem Smartphone läutet. Da ich gerade schreibe, hebe ich – etwas genervt – am Computer ab. Es ist Günther, Sportlehrer und ehemaliger Teilnehmer an den Leichtathletik-Europameisterschaften, der mit mir am letzten Februarwochenende Ski fahren gehen will. Er hat seine Kontakte spielen lassen, um ein geeignetes Quartier zu finden, aber feststellen müssen, dass alles ausgebucht ist. Das wollte er mir mitteilen. Nur das Super-Luxus-Resort ist noch frei, aber er findet, dass das einfach zu teuer ist. Es kostet zwischen dreihundert und vierhundert Euro pro Person und Tag, und das kann und will er sich nicht leisten. Während wir telefonieren und ich ihn zu beruhigen versuche, ihm erkläre, dass er ja mit mir fahre und ich ihn gerne einladen würde, rufe ich das Hotel auf Booking.com auf. Ich mag diese Website, sie hat die günstigsten Preise und man kann meist kostenlos stornieren, zudem bin ich dort Genius-Kunde, was immer das auch heißen mag. Tatsächlich gibt es noch ein Zimmer, sogar die Juniorsuite mit zwei unabhängigen Betten, was bei meinem Schnarchen kein Fehler ist, und es kostet tausendeinhundertsechsunddreißig Euro inklusive Halbpension. Ein Schnäppchen. Denn gerade im Februar 2015 ist der Euro gegenüber dem Schweizer Franken um dreißig Prozent gefallen, der US-Dollar war für uns noch nie so teuer und ich weiß, dass ich in den Tagen vor Schladming aus Jux und Tollerei als Mitglied des Verwaltungsausschusses des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks in Brandenburg sitzen und junge, hoffnungsvolle Menschen auswählen werde, die um ein Stipendium angesucht haben. Das heißt im Klartext, dass ich gerade – international gesehen – von meiner bescheidenen Rücklage etwa dreißig Prozent verloren habe, dass ich drei Lebenstage für einen guten Zweck geben werde, an denen ich sonst arbeiten und Geld verdienen könnte, und dass ich in Phase drei bin, also noch Ski fahren kann und will.

      Überdies bin ich Vater von fünf Kindern, und alles, was ich nicht selbst verbrauche, werden sie zu bekommen versuchen. Mein geliebter mittlerer Sohn hat in der letzten Woche von mir einen Flug nach Los Angeles erbeten, dann war er beim Zahnarzt, den er sehr ernst nimmt, seit er um zirka zehntausend Euro Goldplomben benötigt hatte. (Weil er zuvor seit seinem vierzehnten Lebensjahr weder Zähne geputzt hat noch zum Zahnarzt gegangen war und seine Eltern belehrte, dass er gute Zähne habe, bis die alten Idioten ihm eine Zahnreparatur in dieser Höhe ermöglichten, so dass sogar der behandelnde Zahnarzt nachfragte, ob er sich wohl dafür bedankt habe). Meine liebe zweite Tochter benötigt für ihr Studium Unterstützung und bekommt mindestens fünftausendvierhundert Euro im Jahr von mir dafür, ohne dass ich rechne, was ich und meine Frau ihrer nun achtjährigen Tochter so alles geben. Diese Geschichte ist endlos, nur mein Ältester verdient mit seinen Ideen und unserer Umsetzung so viel, dass auch wir was davon abbekommen. So gleicht sich alles aus. Daher kann ich mir das Hotel leisten. Schließlich war es aber doch nicht nötig, sondern nur eine Protzerei von mir. Günther bekam zwei Einzelzimmer im berühmten Sporthotel Royer und wir gaben die Differenz für Steaks aus.

      So haben sie jetzt schon einiges erfahren, was einen fröhlichen Pensionisten ausmacht: Wie schon in meinem letzten Buch4 beschrieben, geht es darum, zu sich und anderen gut zu sein. An nichts soll man es sich oder den anderen fehlen lassen. Sei es das nun erwachsene Pflegekind mit ihren beiden Kindern, die auch einmal gern einen Geburtstag haben wollen, sei es eines der anderen Kinder, seien es die Blumen, die ich heute früh meiner Liebsten, mit der ich auch noch verheiratet sein darf, schenkte – alles ist drin und kann genossen werden. Die Blumen waren eine Unterstützung für ihren Dienst, den sie aus Nettigkeit für ihre Kollegin machte. Als sie aus dem Auto stieg, sagte sie: „Es sind nur wenige, die so viel Freude aneinander haben wie wir!“ Der Mensch will sich unterscheiden. Jeder will besser sein. Sogar meine sonst so bescheidene Frau.

      Hier darum ein paar Hinweise, wie man ein fröhlicher Pensionist wird:

      – Nehmen Sie sich nicht zu sehr ernst – wie sollten Sie auch, und auf was hinaus?

      – Versuchen Sie nicht, nützlich zu sein. Da Sie sich ja nicht ernst nehmen, wollen Sie auch nicht nützlich sein, weil Sie wissen, dass Sie es nur noch bedingt sind. Vor allem verbinden Sie mit Ihrem Nützlichseinwollen keine Ansprüche.

      – Jammern Sie nicht. Heute Morgen bin ich beim Laufen hinunter vom Schlossberg gestürzt und mein lieber Laufpartner hat mich gelobt, weil ich so abgerollt habe wie James Bond, wie er meinte – er hasst Jammerer fast mehr als alles andere. So wurde mir Anerkennung gezollt und ich beklagte nicht einmal das Loch am Knie der neuen Hose.

      – Keine Besserwisserei. Sie wissen es nämlich wirklich nicht besser, wie man es heute richtiger macht. Weder in der Politik noch in Ihrem eigenen Berufsfeld (also in meinem Fall in der Medizin) noch sonst wo. Sie hatten Ihre Chance und haben sie – hoffentlich – genutzt. Jetzt sind die Jüngeren dran und werden ebenfalls versuchen, die Probleme der Welt zu lösen. Und seien wir ehrlich: Sie und ich haben ausreichend Fehler gemacht, die Welt, die wir übergeben, ist bei weitem nicht perfekt.

      – Seien Sie großzügig und keinesfalls geizig. Sowohl Ihr Totenhemd als auch das der anderen hat keine Taschen. Geld ist flüchtig, der Wunsch, einen Notgroschen zu haben, ist trügerisch. Früher, wie etwa von den wunderbaren russischen Schriftstellern des vorletzten Jahrhunderts beschrieben, wurde oft der letzte Groschen gestohlen, versoffen oder verspielt. Manchmal wurde der Besitzer oder die Besitzerin des Notgroschens auch ermordet – alles nicht zu empfehlen. „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not!“ ist keine Empfehlung in Zeiten stark wechselnder Aktienkurse, der täglichen Hiobsbotschaft, der Euro (der nun mal mein Zahlungs- und Einkommensmittel ist) werde nicht mehr lange Bestand haben, und wo man sieht, dass ganze Staaten vor dem Konkurs stehen, was oft nur unter Aufwendung erheblicher Mittel zu verhindern ist.

      – Betreiben Sie regelmäßig Sport, denn Sie wissen, dass Sie dann besser leben, nicht unbedingt länger. Sie werden sich wie ich freuen, wenn sie stürzen und blitzschnell wieder aufstehen.

      – Essen Sie mit Freude und zwar aus einem einzigen Grund: weil’s schmeckt. Machen Sie keine absurden Diäten, sondern halten Sie sich auf Ihrem Niveau. Sie brauchen keine Waage, weil Ihnen Hosen oder Röcke ohnehin sagen, wie es um Sie steht. Probieren Sie jedes Jahr einen alten Anzug oder ein altes Kostüm. Passen Sie noch rein, dann haben Sie es richtig gemacht, ist nicht einmal daran zu denken, den Knopf zuzumachen, dann müssen Sie umkehren und durch Bewegung und Vermeidung von Fett und Kohlehydraten wieder dorthin zurück, wo Sie waren. Ich bin ein wenig bösartig: An jedem Hochzeitstag trage ich meinen Hochzeitsanzug. Meine Frau hat seit unserer Hochzeit leider etwas zugenommen. Sie kehrt jetzt um. Ich freue mich darüber.

      – Denn Sie wissen: es sind die letzten Meter, die Sie gehen. Die Kerze, mit der man das Leben manchmal vergleicht, ist schon weitgehend abgebrannt, aber noch steht die Flamme ruhig. Ob sie noch fünf, zehn oder zwanzig Jahre haben, die letzten werden nicht Ihre besten sein. Ihre besten Jahre sind heute. Was immer Sie noch tun wollen, tun Sie es jetzt! Oder nie.

      – Daher: Seien Sie frohen Mutes! Die Tatsache, dass Sie bald nicht mehr sind, sollte Sie trösten. Niemand wird Sie vermissen, auch wenn die Menschen es gerne sagen. Es geschieht aus Nettigkeit. Sie waren nie wirklich nützlich, weil es ohne Sie ebenso gegangen wäre, und sind es daher auch jetzt nicht. Sie sind nicht einmal ein Staubkorn im Kosmos, nur „Staub“, weil ein Sandkorn gut und gern ein paar

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