Lust aufs Alter. Peter Scheer

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Lust aufs Alter - Peter Scheer

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Denn nicht nur, dass er das Konzentrationslager überlebt hatte, nicht nur, dass er geschrieben hat, dass die moralisch Schwächeren, jene, die mehr auf sich schauten, größere Chancen hatten, dieses furchtbaren Regime zu überleben, nein, er hat die Idee des „Menschen zum Sinn“ gehabt: Die Sinnfrage war eine Herausforderung, mit der er seine depressiven Patienten konfrontierte und viele damit heilte. Er selbst konnte das sicher auch gut brauchen in seinem kleinen Kammerl in der Wiener Privatklinik, in die ihn die Feindschaft, der Neid und der unterschwellige Antisemitismus der Wiener medizinischen Fakultät verbannt hatte.

      Der Wille zum Sinn war das Gegenteil jenes Triumphs des Willens, den die Nationalsozialistin Leni Riefenstahl (1902 – 2003) verherrlicht hat. Riefenstahls gleichnamiger Film zeigt den Reichsparteitag 1934 in Nürnberg, wo die Masse den Willen des Einzelnen aufsaugt und ihn so zu allem bereit macht. Diesen Menschen wird glauben gemacht, dass der kollektive Wille jede Grenze überschreiten kann. Die Katastrophe des Nationalsozialismus zeigt, dass dieser Glaube Grenzen überschreiten lässt, die man nie überschreiten sollte. Der kollektive „Herrenmensch“ betrat die Bühne der Geschichte und begann sein Zerstörungswerk.

      Hat man Hannah Arendt (1906 – 1975) gelesen, weiß man, dass diese Überschreitungen die Fähigkeit zu einem klaren Urteil zerstört12, dass so die „Bestie Mensch“ freigelassen wird. Diese Bestie bewegt sich dann in einem Umfeld, das den Willen höher stellt als die moralische Entscheidung, und die Einzelnen können sich überdies einreden, dass sie Gutes tun, sogar dann, wenn sie die Gebote der Menschlichkeit außer Acht lassen. Dass es nie wieder so weit kommen möge, ist ein frommer, wahrscheinlich aber nicht in Erfüllung gehender Wunsch.

      Ganz anders und doch ähnlich verhält es sich beim heutigen Sport. Bei Spitzenathleten wie dem Skispringer Thomas Morgenstern wurden die Grenzen zu weit gesteckt. Obwohl er am Schluss der Saison 2014 schon so müde war, dass er bei seinem vorletzten Sprung stürzte, wurde er noch einmal rausgehetzt – und stürzte so schwer, dass an seinem Aufkommen gezweifelt werden musste. Hermann Maier wurde dadurch zum Idol, dass er drei Tage nach seinem kapitalen Sturz in Nagano (1998) den Olympiasieg holte. Die Liste der Spitzensportler, die sich überfordern, ist lang. Da ist etwa Simon Amann, der trotz Sturzes weitersprang und sich schwer verletzte, oder Lindsey Vonn, die trotz ihrer Depressionen und einer Knieoperation 2014 im Jahr 2015 die Bestmarke gewonnener Rennen von Annemarie Moser-Pröll übertraf – wir wissen zwar, dass solche Grenzüberschreitungen, dass ein derart unverantwortlicher Umgang mit der Gesundheit jungen Menschen nicht tolerierbar ist, nehmen es aber einfach hin.

      Die fröhlichen Pensionisten kann man ziemlich klar in drei Gruppen teilen: in jene, die Bewegung macht (das ist die größte Gruppe); in jene, die Pseudobewegungen macht; und in jene, die zu viel Sport betreibt, die ihr Alter nicht wahrnimmt oder verleugnet, die weiter die Sportart ihrer Jugend verfolgt und sich dabei chronisch überfordert. Warum ist das so? Die Antwort ist einfach: In der heutigen Kultur ist Altwerden keine Option. Der alte Mann, den mein Großvater in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts noch authentisch darstellte, ist verschwunden. Kein Anzugmacher, kein Schneider erzeugt noch Maßanzüge alten Stils. Die Hosen enden nicht mehr unter den Brüsten der alten Männer, die Sakkos sind nicht mehr so weit geschnitten, dass sie Platz für Brieftasche, Zigaretten, Bauch und Accessoires haben. Jeder muss körpernah geschnittene Sakkos tragen und von seinen sportlichen Erfolgen erzählen. Mein Sohn Aaron, der Soziologie in Wien studiert, sagt dazu: „Nur der Umstand, dass wir uns unseres Umfelds bewusst sind und die Zeitströmungen kennen, heißt noch lange nicht, dass wir außerhalb davon leben können.“ So ist das. Die meisten Pensionisten geben es auf, Bewegung zu machen. Sie sitzen, lesen, schauen fern und werden in der Folge dick und unbeweglich. Sie schämen sich dafür. Zu Recht. Das alles geht oft mit einer geistigen Unbeweglichkeit einher, einem Unzufriedensein, mit Pessimismus und Zorn auf die Jugend. Nicht schwer zu verstehen. Neid und Ärger über ein versäumtes Leben mischen sich mit dem Wissen um das Steckengebliebensein, eine furchtbare Melange der Bitterkeit.

      Geht man an seine Grenzen, überschreitet man sie ein bisschen, macht man – Grenzerfahrungen. Man sieht und spürt vor allem, was man noch kann. Kurz ist die Zeit, die einem noch gegeben ist. Man weiß, dass sich alles reduziert: die Erinnerung, die Elastizität, die Anzahl der neu anzusteuernden Neuronen, die neuen Einfälle und die Möglichkeiten, die man bei anderen Menschen hat. Man lernt schwerer Menschen kennen, nimmt deren Ideen und Einfälle nicht mehr so leicht auf, vor allem deshalb, weil man ohnedies schon alles zu kennen glaubt. Dieser Glaube ist irrig und kommt daher, dass das Gehirn „einrostet“. Dem entspricht die biologische Tatsache, dass die weiße Substanz (also die Kabeln) zunimmt und die Neuronen (also die Schaltstellen) weniger werden, schließlich baut sich auch die weiße Substanz langsam ab und das Vergessen wird zum Alltagsschicksal. Wichtiger denn je sind daher Grenzerfahrungen. Sie allein sind es, die neue Erfahrungen möglich machen. Damit meine ich nicht, dass jemand, der nie auf Skitouren gegangen oder Marathon gelaufen ist, jetzt im Alter plötzlich damit beginnen soll. Was ich meine, ist, dass sie an ihre jeweiligen Grenzen gehen sollen. Hören Sie nicht auf die Stimme der Vernunft – sie ist der Wegbereiter der Angst.

      Das habe ich unlängst auch meinem sechs Jahre älteren Freund, der auch Peter heißt, gesagt. Er hat bis achtundsechzig gearbeitet und ist seit einem Jahr in Pension. Leider ist er nicht ganz gesund, hat Stents in den Herzkranzgefäßen, ein Auge wurde trüb und seine schon immer weiche und wärmende Seele ist noch weicher geworden. Wir redeten übers Skifahren. Er sprach von seiner Angst. Einmal ist er im Flachen ausgerutscht und konnte nicht mehr aufstehen, benötigte Hilfe, konnte sich mithilfe der Stöcke nicht hochziehen. Einmal stürzte er und hatte Angst, sich etwas gebrochen zu haben. Er sagt: „Ich habe Angst vor Schmerzen!“ Meine Frage „Ist Opium für Schmerzen verboten worden?“ brachte ihn zum Schmunzeln. Wir sind beide Ärzte, er Psychiater, ich Kinder- und Jugendarzt. Wir wissen um die Flüchtigkeit des Lebens und der Gesundheit, um die Kraft der Bewegung, die ihn mehr langweilt als mich, und um ihre relative Wirksamkeit.

      Wie eine Studie kürzlich herausgefunden hat, lebt man durch regelmäßige Bewegung im besten Fall zwei Jahre länger, verbraucht aber für diesen Gewinn vier Jahre an Zeit – diese Art der Lebensverlängerung ist also keine wirkliche Verlängerung, das wissen wir. Allerdings haben wir bis dahin eine schönere Zeit. Ebenso wissen wir beide, dass diese zwei Lebensjahre, die ans Ende angehängt werden, nicht die besten sein werden, so dass wir uns nicht sicher sind, ob wir sie erleben wollen.

      Und doch, Sie sollen an Ihre Grenzen gehen, um von den schrecklichsten der Altersleiden so lange wie möglich verschont zu bleiben: der Ängstlich- und Furchtsamkeit. Aggressionen gegenüber der Jugend und Ärger über sich selbst, der sich dann manchmal als Fremdenfeindlichkeit oder nörgelnde Verdammung von Neuerungen zu erkennen gibt oder in einer anderen Form zutage tritt, die ihrem Wesen oder ihren Vorerfahrungen entspricht. Nur wenn Sie sich erproben, nur wenn Sie wissen, wie weit Sie gehen können, werden Sie sich spüren, sich erleben und neue Erfahrungen machen.

      Als ich meine jährliche Gesundenuntersuchung im Herbst hatte, war das Auto leider nicht in Graz geblieben. Ich hatte es in Wien abgestellt und nicht wieder abgeholt. Meine Kinder wollten es mir bringen, taten es aber nicht. Es war der warme Herbst 2014, die Zeitung voll mit Ankündigungen einer Klimakatastrophe. Ein Vespa-Roller stand in der Garage. Fast neu. Die letzte Erwerbung meines Sohnes, bevor er nach Israel ging. In meiner Jugend assoziierte ich mit Mopedfahren unbegrenzte Freiheit. Leider stürzte ich oft. Gezählte einundzwanzig Mal. Immer ohne Folgen, sogar, als es mich über die Kühlerhaube eines Pkws, die in die Kreuzung hineinragte, schleuderte. Ich krümmte mich zusammen und rollte wie eine Kugel ab. Nun sagte mir ein Freund, dass er das Mopedfahren aufgegeben hätte, weil, wie er sagte, „die Straße im Alter härter“ wird. Ich wollte aber zur Gesundenuntersuchung und war zu faul für das Fahrrad, zu geizig für das Taxi und zu hochmütig für die Straßenbahn, aber nicht feig genug für das Moped. Also – richtig – stieg ich aufs Moped, rollte die steile Straße vorm Haus hinunter und kam mit einem tollen Triumphgefühl an. Das Moped wurde danach für zwei Wochen mein Transportmedium: ob es sich um Einkaufen für die Familie handelte oder darum, meinen Sohn zur Bahn zu bringen – das Moped und ich konnten täglich mehr. Als mein Ältester sagte: „Wieso

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