Pünktlich wie die deutsche Bahn?. Johann-Günther König

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Pünktlich wie die deutsche Bahn? - Johann-Günther König

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der Abfahrt erklang ein weiteres Glockenläuten, das das Betreten des Bahnsteigs freigab. An Zwischenstationen mit sehr kurzen Haltezeiten sollten die Fahrgäste sofort beim Halt zusteigen. Klappte das nicht, verloren sie das Anrecht auf die bezahlte Fahrt – und zwar entschädigungslos. Auf dem Perron kontrollierten die Eisenbahnbeamten die Fahrausweise und wiesen den Fahrgästen ihren Platz in den entsprechenden Klassen und Wagen zu, den sie nicht eigenmächtig verlassen durften. Diesem Procedere hatten sie sich widerspruchslos zu fügen. Während der Fahrt mussten die Fahrgäste diverse Sicherheitsauflagen einhalten, wie nicht zuletzt das Verbot des Hinauslehnens aus dem Fenster. Der Ausstieg am Zielort war zügig vorzunehmen. Im Übrigen durften sie die Wagen nur dort, nicht an den Zwischenstationen verlassen.50

      Mit der Erweiterung der Streckennetze kamen ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr Reisende in den Genuss des Überfahrens von Ländergrenzen zwischen den deutschen Königreichen, Herzogtümern und Freien Städten. Zwar waren insbesondere für den technischen Ablauf des Eisenbahnbetriebes diverse überstaatliche Vereinbarungen getroffen und Regelungen entwickelt worden; die unterschiedlichen betrieblichen Vorschriften, Reisebestimmungen und Währungen ließen ein zügiges und komfortables Reisen zunächst jedoch kaum zu. Im grenzüberschreitenden Verkehr nach Preußen zum Beispiel durften die Fahrgäste in ihrem persönlichen Handgepäck keine Gegenstände und Waren mitführen, die den Zollregelungen unterlagen – sie mussten im mitgeführten Packwagen deponiert werden und wurden beim »Grenzübertritt« kontrolliert. Am Zielbahnhof hatten die Reisenden dann zum Teil beträchtliche Zeit für die Begleichung der angefallenen Zollgebühren beim Eisenbahnpersonal aufzuwenden.

      Bis zum Beginn der 1850er Jahre erfolgte die Legitimation von Bahnreisenden nach den Vorschriften des Pass-Edikts von 1817. Als die Streckenführung immer häufiger über die Grenzen der Bundesstaaten sowie der Nachbarländer hinausführte, häuften sich die Auslegungsprobleme der Passvorschriften und zugleich die Betriebsprobleme. Jedenfalls mussten für Fahrten über die vielen innerdeutschen Landesgrenzen Passpapiere beantragt, vorgewiesen und laufend aktualisiert werden. Im für hochbürokratische Schikanen verschrienen Königreich Sachsen stand bis 1841 vor dem Kauf einer Fahrkarte die zwingende namentliche Registrierung bei der Polizei. Für die Dauer der Eisenbahnfahrt wurde einem jeden Fahrgast zudem der Pass von mitreisenden Polizeioffizianten abgenommen.

      Der wachsende Druck aus dem Eisenbahnerlager, die hoffnungslos veralteten Vorschriften zu reformieren, zeigte Wirkung. So schlossen die königlich sächsischen, königlich hannoverschen, herzoglich braunschweigischen und herzoglich anhaltischen Regierungen im Oktober 1850 mit dem Königreich Preußen einen Passkartenvertrag, der bestimmte, dass alle Einwohner, die von den Polizeibehörden als »vollkommen sicher und zuverlässig« eingeschätzt wurden, für ihre Reisen innerhalb des Gesamtgebiets, des »Bahn-Rayons«, statt der vor jeder Fahrt zu beantragenden Pässe für ein Jahr gültige Passkarten erhalten könnten. »Als vollkommen zuverlässig« galten den Polizeibehörden alle selbstständigen Personen, »welche innerhalb des Bahn-Rayons ihren ordentlichen festen Wohnsitz haben«. Keine die Reise erleichternden Passkarten erhielten hingegen »Gewerbegehilfen, Handwerksgesellen u. dergl.« sowie »Dienstboten oder Arbeitssuchende«. Sie alle mussten für eine Reise weiterhin einen Pass beantragen. Immerhin sah der Vertrag vor: »Kinder und Ehefrauen, welche mit ihren Eltern und Ehegatten, und Dienstboten, welche mit ihren Herrschaften reisen, werden durch die Passkarten der Letzteren legitimirt.«51

      Die Passkarten wurden wie auch die üblichen Reisepässe von den Polizeibehörden ausgestellt. Kostenlos waren sie nicht. Da die grundlegende und willkürliche Einschränkung für einen Passkarten-Antragsteller, er müsse »vollkommen sicher und zuverlässig« sein, in der Wirtschaft und auch bei den Eisenbahngesellschaften auf wachsende Ablehnung stieß, wurde die Visapflicht allmählich gelockert und 1862 vom preußischen Landtag vollends aufgehoben.

      Weil die Fahrpläne, Beförderungsbedingungen und Tarife der verschiedenen Eisenbahngesellschaften von Land zu Land unterschiedlich gestaltet waren, mussten Fernreisende nach dem Überqueren einer Staats- bzw. Eisenbahngesellschaftsgrenze mit Schwierigkeiten rechnen – nicht selten sogar umsteigen und neue Fahrkarten lösen. Ab dem Ende der 1840er Jahre änderten sich diese beschwerlichen, auch durch den knallharten Wettbewerb der Bahngesellschaften bedingten Zeiten des Durchgangsverkehrs allmählich. Um die wichtigen Verbindungen zwischen Berlin, Leipzig und Köln als reibungslosen Durchgangsverkehr auf die Reihe zu bekommen, schlossen sich 1848 erstmals sechs Eisenbahnverwaltungen zusammen. Im Übrigen ließen die frühen Lobbyisten von Handel und Industrie keinen Zweifel daran, dass die Zeiten für einen restriktionsfreien Personen- und Güterverkehr und die Aufhebung unnötiger Gewerbebeschränkungen ein für alle Mal gekommen waren.

      Wie gut der Ausbau der Strecken vorankam und das »beschleunigte« Reisen erleichterte, wurde die Presse nie müde zu erwähnen. Ende 1847 wurde zum Beispiel berichtet: »Paris ist jetzt von Leipzig aus in zwei Tagen 13 ½ Stunden erreichbar, wobei man noch dazu zwei Nachtlager macht, in Magdeburg und Köln, und an beiden Orten zusammen 16 ½ Stunden verweilt. Man reist von Leipzig z. B. Sonntags um 5 Uhr Abends ab, übernachtet in Magdeburg, fährt von da Montags früh 3 ½ Uhr ab, kommt in Köln (Deuß) Abends 9 ½ Uhr an, reist von da am anderen Morgen, also Dienstags, früh 6 ½ Uhr ab, erreicht Brüssel Nachmittags gegen 4 ½ Uhr, verläßt es wieder nach zweistündigem Aufenthalt Abends 6 ½ Uhr und ist am anderen Morgen, also Mittwochs früh 6 ½ Uhr in Paris. Von Berlin aus dauert die Reise, da man dort Abends 10 Uhr abreist, ungeachtet der um einige Meilen längeren Entfernung, sogar fünf Stunden weniger.«52

      Wenn die Beschwerden längst verblichener Fahrgäste nicht unnötig übertreiben, dann war das Fahren mit einer der deutschen Eisenbahnen im 19. Jahrhundert zuweilen kein Vergnügen. 1869 lautete eine ziemliche Breitseite gegen die Bahn so: »Nichts ist begründeter als der Vorwurf gegen die Deutschen, daß sie als Reisende die Eisenbahneinrichtungen hinnehmen, wie sie solche finden, höchstens in der Tasche eine Faust machen oder ihre Reisegefährten mit allerhand wahren oder eingebildeten Klagen behelligen, statt dieselben gehörigen Ortes anzubringen. Bevor wir Beschwerde führen, können wir nicht hoffen den Grund derselben abgestellt zu sehen. Die Barbarei, daß im Winter die Wagen nicht erwärmt werden; der Mangel jedes Zufluchtsorts für leibliche Bedürfnisse, dergleichen die Natur des nicht willkürlich zu unterbrechenden Eisenbahnfahrdienstes doch gebieterisch erheischt; die Unmöglichkeit für die Reisenden, den Schaffner herbeizurufen, auch wenn die dringendste Noth oder Gefahr dazu zwingt; der unerträgliche Staub im Sommer, der Zug im Herbst und Frühling, die Kälte im Winter, denen allen ohne Ausnahme voraussichtlich Grenzen zu ziehen wären, wenn sich der Witz der Techniker, von einem sich als Herr fühlenden Publikum gespornt, ein wenig darauf verlegen wollte – alle diese großen und kleinen Uebelstände müßten so lange, sei es direkt und privatim in Vorstellungen bei den Bahnverwaltungen, sei es öffentlich in der Presse, eigenen Versammlungen, Vereinen oder im Schooße der verschieden abgestuften Volksvertretungen zur Sprache gebracht werden, so lange man sie nicht völlig abstellt.«53

      Nicht zuletzt die ungebrochene Vielfalt der Tarife erregte die Gemüter stets aufs Neue. Nachdem 1877 endlich die Ständige Tarifkommission der Deutschen Eisenbahn-Verwaltungen ins Leben gerufen war, dauerte es im Bereich des Personenverkehrs immerhin noch dreißig Jahre, bevor 1907 die lang geforderte Einheitlichkeit der Eisenbahntarife im Deutschen Reich zustande kam.

      5. Alles Aussteigen

      Einen bemerkenswert glaubwürdigen und empfindsampräzisen Einblick in die Welt der Eisenbahnreisenden zwischen den 1840er und 1870er Jahren vermittelt der Journalist und Schriftsteller Friedrich Wilhelm Hackländer in seinen Berichten, Erzählungen und Romanen.54 In der Erzählung Reiselust rückt der auf Basis des eigenen Erlebens schreibende Autor mit dem fiktiven Oberrevisor (bzw. Chefcontroller) Schmauder einen Zeitzeugen in die Mitte des Geschehens, »dem wir folgen wollen […] denn vom Bahnhof her vernehmen wir schon zuweilen das gellende Pfeifen einer Lokomotive; wir brauchen uns deshalb aber nicht zu beeilen, denn wir sind sicher, daß der Zug erst um fünf Uhr abgeht und unsere Taschenuhr haben wir gestern auf’s Sorgfältigste

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