Pünktlich wie die deutsche Bahn?. Johann-Günther König
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4. Gute alte Zeit?
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts blieb die Geschwindigkeit des Menschen im Rahmen dessen, was bereits Julius Cäsar erleben konnte. Viel mehr als 150 Tageskilometer waren mit der tierisch gestützten Mobilität auf dem Landweg nicht zu bewältigen. Als die Eisenbahnen ab den 1840er Jahren zunehmend den Fernverkehr aufnahmen, bot sich den bis dahin auf Postkutschen angewiesenen Reisenden eine Alternative, die mit einer deutlich höheren Zuverlässigkeit und auch immer mehr Geschwindigkeit unterwegs war. Zu jener Zeit existierte ein europaweites Netz von regelmäßig mit Postreitern, Eil- und Kurswagen befahrenen Routen, von unzähligen Poststationen und Herbergen wie die legendären »Gasthöfe zur Post«. Die nach englischem Vorbild und mit festem Fahrplan eingerichteten Eil- bzw. Schnellposten hatten die Reisezeiten durch Pferdewechsel ohne Aufenthalt und dank Nachtfahrten immerhin deutlich verkürzt. Zudem trieben die meisten deutschen Staaten den Neu- und Ausbau gepflasterter Straßen bzw. Chausseen nach französischem Vorbild voran, und die neuartige stählerne Blattfederung ermöglichte den Bau von bequemeren Kutschen.
Fahrten mit der Postkutsche wurden von vielen Reisenden als Strapaze empfunden, weil sie Schmutz und Staub ausgesetzt waren, beengt im geschlossenen Wagen sitzen und zuweilen eine unliebsame Reisegesellschaft ertragen mussten. Gestürzte Pferde, gebrochene Räder und feststeckende Wagen gehörten zum Reisealltag. Zudem hatten sich die Passagiere den systembedingten Anforderungen des Postverkehrs zu unterwerfen, dessen Personal sich zuweilen ziemlich rüpelhaft an den als bürgerlich bezeichneten Tugenden Zuverlässigkeit, Ordnung, Disziplin und – zumindest prinzipiell – Pünktlichkeit orientierte. Der Schriftsteller, Hofmaler und Kammerherr Wilhelm von Kügelgen verdeutlichte in seinen posthum veröffentlichten Jugenderinnerungen eines alten Mannes, was ihm beim Reisen in dem von der Romantik geprägten, bahnlosen frühen 19. Jahrhundert widerfuhr: »Zwischen Leipzig und Dresden gingen damals zwei Personenposten, die sogenannte gelbe und grüne Kutsche. Die erste dieser Gelegenheiten stieß dermaßen, daß Leib und Seele Gefahr liefen, voneinander getrennt zu werden, daher besonnene Leute die andere, etwas gelindere, zu wählen pflegten. Doch war auch diese noch immer von der Art, daß man bisweilen vor Schmerz laut aufschrie, und wenn der Schwager nicht an jeder Schenke angehalten hätte, so würde man es kaum ertragen haben; mit solchen hochnötigen Intervallen war es aber eine gesunde Art, zu reisen. Die heftigen Erschütterungen, denen man ausgesetzt war, solange das Vehikel in Bewegung blieb, erregten nämlich Löwenhunger, den zu befriedigen jedwede Schenke und Station ihren eigentümlichen und berühmten Leckerbissen darbot […]; hier aß man Preßkopf, dort wurden Rühreier verschluckt, und anderwärts mußte Landwein getrunken werden – kurz, von Stunde zu Stunde hatte man Gelegenheit, die Löcher wieder zuzustopfen, welche Weg und Wagen unablässig in den Magen stießen.«41
Es gab freilich auch Zeitgenossen, die die Postkutsche zunächst dem Personenzug vorzogen. Der Schriftsteller Friedrich Wilhelm Hackländer zum Beispiel, der am 20. Dezember 1838 seine erste Fahrt auf dem gerade eröffneten Streckenabschnitt der Eisenbahn von Düsseldorf nach Erkrath mitgemacht hatte und darüber berichtete: »Natürlich setzte sich Alles in Bewegung, dies neue Wunder selbst zu erleben, und zu dem Ende fuhr man mit Omnibus und Postwagen ungefähr drei Stunden bei Regenwetter und Sturm durch Schmutz und Schneewasser, um jene Abfahrtstation, mitten im Walde gelegen, zu erreichen. Dort hatte man das Vergnügen, unter einer elenden Holzbaracke, in welche von allen Seiten Regen und Schnee hineinpfiff, einige Stunden auf die Abfahrt warten zu müssen, indem die Lokomotive bei unserer Ankunft eben im Begriffe war, den ersten Mund voll Kohlen und Wasser zu verspeisen. Es war ein trostloser Anblick, die frierenden Damen und Herren, die durchnäßten Röcke und Mäntel, die zerstörten Hüte und Coifuren, die bleichen und rothen Gesichter, alle so begierig auf den endlichen Anfang des großen Vergnügens. […] Endlich war die Lokomotive eingespannt, Alles saß in den Waggons und erwartete mit Ungeduld das Zeichen der Abfahrt. Da erklärte plötzlich der Maschinist, an der Lokomotive müsse etwas nicht ganz richtig sein und selbe sei nochmals genau zu untersuchen. Diese Untersuchung dauerte wieder eine gute Stunde, und dann endlich fuhren wir ab, erfroren, hungrig, durchnäßt, ermüdet und gelangweilt. – Es war meine erste Eisenbahnfahrt. Jetzt bediente ich mich lange Zeit wieder des soliden Postwagens als Transportmittel, saß bald im Coupée bei dem Conducteur, mit ihm Cigarren rauchend und plaudernd, oder auch zuweilen im Innern des Wagens, zwischen zwei dicken alten Damen eingepreßt, das Fegfeuer im Voraus abverdienend.«42
Zu Beginn des Schienenpersonenverkehrs rekrutierten sich die Fahrgäste fast ausschließlich aus den höheren Ständen, aus Adeligen, Staatsbeamten, Künstlern und wohlhabenden Bürgern, die bis dahin mit eigenen oder Miet- oder Postkutschen unterwegs gewesen waren. Und was machten einige dieser Herrschaften? Sie ließen sich schon in den 1840er Jahren – also längst vor dem 1930 erfolgten Start der Autoreisezüge – in ihrer eigenen Kalesche auf einem sogenannten Equipage-Wagen mitnehmen, um bei der Ankunft am Zielbahnhof sofort (mit Mietpferden) weiterzuckeln zu können. Das kostete natürlich extra – bei der Königlich Bayerischen Eisenbahn exakt 45 Kreuzer für die Equipage und 20 Kreuzer pro Pferd (der Tageslohn eines Arbeiters betrug 36–54 Kreuzer). Weniger Begüterte konnten in den postkutschenähnlichen Wagenkästen mit Lederschürzen vor den Fenstern eine schmale Sitzgelegenheit ergattern, während gar nicht Begüterte in offenen und ungefederten Wagen im Stehen oder mit Glück auf harten Holzbänken durchgerüttelt wurden. Ihnen pfiff dabei der Fahrtwind um die Ohren, und ein plötzlicher Regenschauer durchnässte die Kleidung, wobei der Rauch der Lokomotive mit längerer Fahrtdauer auch noch ihre Gesichter schwärzte. Was Wunder, dass an den Stationen Händler sogenannte Eisenbahnbrillen feilboten …
Gab es die vielbeschworene »gute alte Zeit« für Bahnreisende? Da in den gängigen Publikationen zumeist Erinnerungen und literarische Fundstücke präsentiert werden, die die Eisenbahn-Nostalgie befeuern helfen, ziehe ich vor allem Texte heran, die erhellen, dass die Eisenbahngesellschaften und ihr Personal seit jeher von anspruchsvollen Fahrgästen mit Argusaugen überwacht und kritisiert werden.43 Die erste mir bekannte Kritik ereilte hierzulande die Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft knapp zwei Monate nach der Betriebsaufnahme der Linie Nürnberg–Fürth im Februar 1836. Sie erfolgte in der nach wie vor empfehlenswerten Form einer Höflichen Bitte:
Wir bitten Sie, verehrte Herren
Inhaber vom Dampfwagen!
Leih’n Sie uns Ihre Ohren gern,
Um etwas vorzutragen:
Der Tritt zum Wagen ist zu hoch,
Um auf und ab zu gehen;
Da kann sich leicht im Sprunge doch
Manch’ schöner Fuß verdrehen.
Drum lassen – o wir bitten Sie,
Steigeisen Sie anschmieden;
Dies lässt sich ja mit leichter Müh’
Durch Aktien vergüten.
Da es die Pflicht des Christen ist,
Fehltritte zu vermeiden,
So hofft man, wird in kurzer Frist
Der Wunsch erfüllt, mit Freuden.44
Natürlich waren und sind Beanstandungen von Bahnreisenden nicht immer, in manchen Fällen gar nicht berechtigt – in der Regel aber schon. Im September 1839 stand im Tagblatt für Politik, Literatur, Kunst und Wissenschaft zum Beispiel zu lesen: »München, 7. Sept. Seit einigen Tagen, namentlich gestern, bei allerdings sehr ungünstiger Luftströmung, hörte man häufig von Fahrgästen auf der Eisenbahn Klagen über Beschädigungen von Kleidungsstücken durch das unvermeidliche Aussprühen der Funken aus dem Kamine der Locomotive. Das Directorium, diese Klagen berücksichtigend, verspricht in einer heute erschienenen Bekanntmachung, die