Pünktlich wie die deutsche Bahn?. Johann-Günther König
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»Da sind wir endlich gegenüber der Eisenbahnkasse, doch wird es noch eine Zeitlang dauern, ehe wir glücklich unser Billett gelöst haben. Eine gewaltige Menschenmenge hat sich davor zusammengedrängt: der aufgestellte Portier hat genug zu erinnern, daß man von rechts an den Schalter tritt, um nach links wieder zu verschwinden; auch ermahnt er, nicht vorwärts zu drängen, was aber ziemlich fruchtlos bleibt; denn so oft drinnen ein Glockenton erschallt, oder irgend eine Lokomotive pfeift, so preßt sich der Menschenknäuel wieder um so fester zusammen, da Jeder die Befürchtung hat, zu spät zu kommen. Herr Schmauder hat sich, bewaffnet mit dem Grundsatze, daß es ohne Mühe kein Vergnügen gibt, muthig in diesen Strudel gestürzt und steht nun da, eingekeilt zwischen einem wohlbeleibten Herrn, der noch obendrein sehr unnöthiger Weise immer etwas in seinen hintern Rocktaschen zu suchen hat, und einer umfangreichen Dame, welche ihre beiden Fäuste, mit Sonnenschirm und einem kleinen Nachtsacke bewaffnet, vor sich hält und auf diese Art in unangenehme Berührung kommt mit dem Rücken des Oberrevisors. So geht es langsam Zoll um Zoll vorwärts, und es würde viel rascher gegangen sein, wenn nur alle Leute so diskret wären, sich mit kleinem Gelde zu versehen, oder wenn sie nicht bei dem geplagten Eisenbahncassier Erkundigungen über die Länge irgend einer Fahrzeit oder anderer Dinge einziehen wollten. […]
Endlich verlangte Herr Schmauder seine Karte und händigte dafür dem Kassier mit einer rührenden Genauigkeit das abgezählte Geld in gangbarer Landesmünze ein, wofür ihn der betreffende Eisenbahnbeamte mit einem gnädigen Kopfnicken entließ. Es war doch schon etwas spät geworden und Diejenigen, welche jetzt noch mit dem Zuge fort wollten, mußten sich zu einem kleinen Dauerlaufe bequemen. […] Da saß unser Reisender endlich, tief und glücklich aufathmend und hatte einen außerordentlich schönen Platz rückwärts am Fenster, Schattenseite. – Auch war es nicht übermäßig voll, hie und da noch ein Platz frei, und lange zu warten brauchte man auch nicht: die Glocke gab ihre üblichen Zeichen, die Lokomotive pustete asthmatisch und dann ging’s aus dem dunkeln Bahnhof in den freien Sonnenschein hinaus. […]
Leider fliegen die glücklichsten Augenblicke am raschesten vorüber – kaum gedacht, war der Lust ein End’ gemacht: da pfiff schon die Lokomotive, da verminderte der Zug seine Schnelligkeit und hielt auf dem Bahnhofe einer ehemaligen Reichsstadt […]. Leute gab es genug auf dem Trottoir, doch war bei dem allgemeinen Durcheinander noch schwer zu unterscheiden, wer von diesen wirklich Selbstreisender war oder nur Begleiter. […]
Eingestiegen wurde nun auf den Ruf der Kondukteure, aber sehr mäßig und dabei blieb höchst angenehmer Weise der Wagen, in welchem unser Reisender saß, gänzlich verschont; verdächtig waren indeß immer noch die beiden Gruppen, die sich streng abgeschlossen hielten, und dieser Verdacht wurde zur fürchterlichen Wahrheit, als der Kondukteur ihnen zurief: ›Meine Herren, es ist die höchste Zeit, wenn Sie mitfahren wollen, der letzte Wagen ist noch ganz unbesetzt‹, worauf sich die eine Gruppe rasch in Bewegung setzte, den Wagen des Herrn Schmauder bestieg und die Seite, auf der er sich befand, vollständig einnahm. […] So fuhr man dahin und ziemlich beengt – Herr Schmauder hatte sogar seinen kleinen Reisesack unter die Bank legen müssen, da Einer der neu Angekommenen dieses harmlose Geräth und hierauf den Besitzer desselben mit dem gewissen fragenden und auffordernden Blicke angesehen hatte – auch brummte dieser, als er sich niederließ: ›Es ist eigentlich überflüssig, sich für eine so kleine Tour noch mit Gepäck zu belästigen.‹ […]
›Pflaumloch!‹ sagte der Zugmeister und setzte hinzu, indem er einen Blick auf seine Uhr warf, ›es ist rein zum Davonlaufen, jetzt haben wir schon zwanzig Minuten Verspätung – na, die Bayern werden uns wieder auslachen – einsteigen nach Nördlingen und rasch, wenn’s gefällig ist.‹ […] Allein, allein auf weiter Flur, / Und eine Morgenglocke nur, / Sonst Stille nah und fern. Das dachte er aber nicht in seinen Träumen, sondern es schlug vielstimmig an sein Ohr, als der Zug auf dem Bahnhof in Nördlingen hielt. Gerechter Himmel! Welches Menschengewühl, welche Unmasse nichtssagender Gesichter mit aufgesperrten Mäulern, an denen er nun vorüberfuhr und die wie zum Hohne auf seinen Gemüthszustand und auf ihr eigenes lärmendes Getriebe von Stille nah und fern sangen und von Alleinsein auf weiter Flur. In langen Reihen standen sie da auf dem Trottoir, überragt von bunten Fahnen, Eichenzweigen an Hüten und Mützen, in festtäglicher Kleidung und festtäglicher Stimmung – eine Sängerfahrt von zwanzig verschiedenen Männergesangvereinen und Liedertafeln. […]
›Wird der Zug, mit dem wir nach Nürnberg fahren, wohl stark besetzt sein?‹ erlaubte sich der Oberrevisor schüchtern zu fragen.
›Stark besetzt sein? – Fragen Sie lieber, ob unsere Wagen ausreichen werden, um Alles das fortzubringen.‹
›Du, mein lieber Gott – wir werden doch nicht die sämmtlichen Sänger von da drüben mitnehmen?‹
›Nun das fehlte uns noch – wir werden an unseren Schützen gerade genug haben.‹
›An unseren Schützen?‹ frug Herr Schmauder mit einer matten Stimme.
›Ja, wissen’s denn nit, daß in Nürnberg das Schützenfest abgehalten wird?‹
Der Oberrevisor warf einen matten Blick gen Himmel: Scylla und Charybdis – dort schwäbische Sänger, hier bayerische Schützen.‹ […]
Der Oberrevisor hatte bis hieher noch nicht viel von der Hitze zu leiden gehabt, jetzt aber rann der Schweiß in hellen Tropfen von seiner Stirne herunter und nicht allein der Wärme oder des engen Sitzens wegen, sondern er konnte sich auch eines unbehaglichen Gefühls nicht erwehren beim Anblick all’ der Schußwaffen, die sich im Wagen befanden, der gefüllten Pulverhörner und des beispiellosen Leichtsinns, mit welchem man hier die brennenden Zündhölzchen und glimmenden Cigarren zu behandeln pflegte – welch’ gräßliches Unglück stand da in Aussicht: der ganze Zug war mit Schützen besetzt, von denen jeder Munition in hinreichender Menge mit sich führte, vielleicht war auch noch ein Packwagen mit Schießpulver angehängt für das Schützenfest in Nürnberg. […]
Und dabei hatte auch dieser Zug seine gehörige Verspätung und auf Stationen, wo man fünf Minuten hätte halten sollen, um ein wenig Luft zu schöpfen oder sich die Glieder wieder gelenkig zu machen, öffneten die Schaffner eilfertig die Thüren, um sie in der nächsten Sekunde wie zum Hohne wieder zuzuschlagen und zu verriegeln – […] da sauste man an Pleinfeld, Roth, Schwabach vorüber, da zuckte der wahrheitsliebende Schaffner die Achseln, wenn man ihn um die Länge des Aufenthaltes in Nürnberg befragte, und setzte hinzu: ›Nach Bamberg und Würzburg wird es augenblicklich weiter gehen, wir kommen eine halbe Stunde zu spät.‹
In der Richtung der ersteren Stadt lag auch das Ziel unseres Reisenden […] ›Alles aussteigen!‹ rief der betreffende Beamte auf dem Nürnberger Bahnhofe den Schützen zu, bei denen sich auch unser Reisender befand, ›diese Wagen werden abgehängt und nach Bamberg und Würzburg wird weiter vornen eingestiegen – doch bitte ich, sich möglichst zu beeilen, der Zug wird im Augenblicke abgehen.‹
Also […] und nun von Schweiß triefend in einem animirten Hundetrab durch die ganze Länge des Bahnhofs, wo sich die neue Lokomotive zischend und rauschend so ungeberdig und ungeduldig anstellte, als habe sie nur darauf gewartet, daß Herr Schmauder einsteigen werde […], daß er schneller, als dieses sonst wohl geschehen wäre, auf den einzigen noch freien Platz befördert wurde. […] Der Schaffner, der jetzt erst an der Thüre des Coupé’s erschien, um die Karten zu löchern oder abzunehmen, machte