Pünktlich wie die deutsche Bahn?. Johann-Günther König
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Pünktlich wie die deutsche Bahn? - Johann-Günther König страница 9
Auf der im Oktober 1842 eröffneten Berlin-Frankfurter Eisenbahn zogen die Loks sowohl Equipage-Wagen wie auch geschlossene Personenwagen und offene Stehwagen. Nachdem Mitte Juni 1843 heftige Regengüsse niedergegangen waren, berichtete das Frankfurter Patriotische Wochenblatt, die Passagiere in den Stehwagen wären »nicht nur mit ihren Sachen, die sie in Körben und Bündeln trugen, ganz und gar durchnäßt« worden, »sondern mußten auch zuletzt bis an den Knöcheln im Wasser stehen. Die Schweine, die auf der Eisenbahn transportiert werden, bekommen ein Strohlager und ein schützendes Obdach …«46 Der von der Presse aufgegriffene Unmut der Passagiere zeigte Wirkung: 1844 wurden die Stehwagen auf der Linie abgeschafft und durch geschlossene Wagen der dritten Klasse ersetzt.
Im Zuge der flotten Entwicklung des Schienenpersonenverkehrs nahmen die Fahrgäste von Beginn an mit ihren Erwartungen und ihrem konkreten Reiseverhalten nebst der dabei gemachten Erfahrungen durchaus Einfluss auf viele Aspekte des Eisenbahnbetriebs. Ihre Wünsche nach Komfort, Sicherheit und Zuverlässigkeit trugen zweifellos zur Weiterentwicklung der Technik bei. Der Wunsch nach preiswerten Reisemöglichkeiten wurde von den Eisenbahngesellschaften auch erhört. Statt der anfangs nur zwei offerierten Klassen – eine für geschlossene und die andere für offene Wagen – wurden auf immer mehr Linien drei und zunehmend vier Klassen in geschlossenen Wagen zum Standard. Die erste und zweite Klasse für besser gestellte und gut betuchte Leute, die dritte und vierte für die weniger bemittelte Bevölkerung. In Preußen wurde die allgemeine Einführung der vierten Klasse mit der Begründung versehen: »Menschliche Arbeitskraft ist mit die am kostspieligsten transportirbare und am schwersten bewegliche Waare. Daher kommt es, dass immer noch eine nach Zeit und Verhältnissen zwar verschiedene, aber doch eine gewisse nicht unbedeutende Quantität dieses volkswirtschaftlichen Kapitals an einigen Orten feiert, oder nicht aufs höchste verwerthet wird, obgleich anderwärtz die erforderliche Gelegenheit dazu geboten ist, aber nicht wahrgenommen werden kann. […] Dieser Uebelstand begegnet jede Verbesserung im Verkehr und im Transport, welche die Beweglichkeit der Arbeitskräfte vermehrt und ihre Beförderung von Ort zu Ort erleichtert, beschleunigt und möglichst wenig kostspielig macht.«47 Im Laufe der Zeit wurde die vierte Klasse, die zur »Erleichterung der Communication« und »zur Förderung des Verkehrs« insbesondere der Arbeiterklasse zugedacht war, nicht zuletzt von Handwerkern, Auswanderern und dem Landvolk frequentiert, das mit großen Bündeln, Hühnern und Gänsen an Markttagen in die nächste Stadt fuhr. Bequem waren die vom Volksmund als »Kälberwagen« titulierten Anhänger während des 19. Jahrhunderts gewiss nicht, hatten sie doch lediglich an den Wagenwänden hochklappbare hölzerne Sitzbänke.
Die billige und von daher immer hoch ausgelastete vierte (Steh-)Klasse ermöglichte Leuten mit geringen Einkünften in der Tat das zumindest gelegentliche Mitfahren. Im Zusammenspiel mit der nicht minder hochfrequentierten dritten (Holz-)Klasse gewährleistete sie ab 1852 den Aufstieg der Eisenbahn zum Massentransportmittel. Reisen, die bis dahin von den meisten Leuten nur dann angetreten wurden, wenn sie wirklich erforderlich waren, wurden fortan allmählich zu so etwas wie einem Normalfall. Einschließlich der touristischen »Lustreisen«, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Bürgertum immer beliebter wurden. Peter Paul Dahms vermerkt zur »Streubreite in der Frequenz und der Länge der Reise«: »Der landwirtschaftliche Produzent fuhr regelmäßig eine kürzere Strecke von seinem Dorf in die nächste Stadt, wobei dabei noch ein längerer Fußweg zur nächsten Eisenbahnstrecke und deren Haltepunkt erforderlich werden konnten. Eine Zusammenkunft von Verwandten zu einem Familientreffen aus einem traurigen und weniger traurigen Grund konnte einmalig auch über eine größere Entfernung organisiert werden. Der Bildungsbürger konnte seiner Neugier oder seinem Erkenntnisdrang folgend, entfernte Landschaften und Städte besuchen. Der junge Adelige konnte seine ›Kavalierstour‹ mit der Eisenbahn absolvieren.«48
Seit den frühen Tagen des Schienenverkehrs wird der Zugang zu den Zügen reglementiert, schreiben die Eisenbahngesellschaften den Fahrgästen Verhaltensmaßregeln vor, die zunächst in Betriebs-Reglements festgehalten und als öffentlicher Anschlag bekannt gemacht wurden. Inzwischen ist zumeist von Beförderungsbedingungen die Rede und macht die Eisenbahn-Verkehrsordnung (EVO) einschlägige Vorschriften. In Paragraph 13 Abs. 1 heißt es zum Beispiel unmissverständlich: »Ein Anspruch auf einen Sitzplatz oder auf Unterbringung in der 1. Klasse bei Platzmangel in der 2. Klasse besteht nicht.« Im Klartext: Selbst wenn die Reisenden etwa in einer Regionalbahn dicht an dicht gedrängt stehen, die Gänge komplett mit schwitzenden Menschen und unförmigen Gepäckstücken verstopft sind, und es absolut kein Durchkommen mehr gibt, dürfen Fahrgäste mit einem Zweite-Klasse-Ticket sich nicht auf einen noch freien Platz im Abteil der ersten Klasse setzen. Es sei denn, sie entrichten beim Schaffner den fälligen Zuschlag. Übrigens gilt das auch für quasi hochrangigere ICE-Passagiere, wenn sie wegen einer Verspätung oder eines Zugausfalls auf den Regionalverkehr umsteigen. Und noch etwas: Selbst das bequemer erscheinende Stehen in den Gängen im Bereich der ersten Klasse ist für Reisende mit einer Fahrkarte zweiter Klasse tabu. Aber gemach. Der Zugchef eines Schnellzugs kann die teureren Sitz- und Gangplätze aus Sicherheitsgründen ohne Zuschlagberechnung eigenmächtig freigeben, wenn eine Überfüllung das erfordert.
Zurück ins Jahr 1839, als bei der Betriebseröffnung der Leipzig-Dresdner Eisenbahn »Reglements und Instructiones« zum Tragen kamen, die sowohl die Eisenbahner wie auch die Fahrgäste auf das strafbewehrte Einhalten von Ordnung, Disziplin und Sicherheitsvorschriften verpflichteten: »Die eigene Sicherstellung des Publicums erfordert es, die Befolgung der nachstehenden Vorsichtsmaßregeln allen Eisenbahnreisenden aufs Dringlichste zu empfehlen: Nur an der durch die Schaffner geöffneten Wagenseite ein- und auszusteigen und überhaupt den Anweisungen der Schaffner Gehör zu geben. Sobald die Wagen sich in Bewegung setzen, keinen Versuch zum Einsteigen mehr zu machen, wie es von Verspäteten schon mehrfach statt gefunden […]. Es ist die Anordnung getroffen, daß nur die Schaffner die Wagenthüren verschließen und öffnen dürfen. Während der Fahrt sich nicht seitwärts hinauszubeugen, aufzustehen, auf die Bänke zu treten oder sich gegen die Thüren anzulehnen, auch den eingenommenen Platz nicht zu verlassen, bis der Wagen am Bestimmungsorte angekommen ist und nicht ehe auszusteigen, bis derselbe völlig stille steht.«49
In Form und Inhalt glichen sich die Reglements der wachsenden Zahl von Bahngesellschaften zur Disziplinierung der Fahrgäste weitgehend. Die Paragrafen enthielten detaillierte Vorschriften für alle möglichen Vorgänge, die prinzipiell während des Betriebsablaufs vorkommen, ihn stören oder gefährden konnten. Etwa für den Wechsel einer Wagenklasse vor Antritt der Reise und den Transport von Kranken. »Sichtlich Kranke« wurden nur befördert, wenn sie ein – teures – eigenes Coupé lösten und »trunkene« Fahrgäste umgehend und ohne Rückzahlung des Fahrgeldes von der Mit- oder Weiterfahrt ausgeschlossen. Generell hatten die Reisenden und anderen Benutzer der Stationseinrichtungen den Anweisungen der durch eine Uniform und ein Dienstabzeichen ausgewiesenen Gesellschaftsbeamten widerspruchslos zu folgen. Wer sich nicht fügte, konnte von der Mit-und Weiterreise ausgeschlossen werden oder musste mit der Polizei Bekanntschaft machen.
Die Tarife waren öffentlich an den Schaltern angeschlagen und die Fahrgäste gehalten, beim Kartenkauf das abgezählte Fahrgeld bereitzuhalten, um Drängeleien zu vermeiden. Die gelösten Fahrbilletts bzw. -karten galten nur für die angegebene Fahrt in der gewählten Klasse; eine Rückgabe des Fahrgeldes erfolgte nur in begründeten Sonderfällen. Wer zu spät kam, den bestrafte das Bahnleben, denn die oder der Reisende hatten keinen Anspruch auf Erstattung oder auch den Umtausch des Billetts und mussten für die nächste Fahrt ein neues lösen. Für Verspätungen oder für Zugausfälle übernahmen weder die privaten noch die staatlichen Eisenbahngesellschaften die Verantwortung. Inwieweit sie ein Problem waren, kommt später zur Sprache.
Bei der Rheinischen Eisenbahngesellschaft galten auf deren 1841 fertig gestellter Strecke von Köln nach Aachen in jeder Hinsicht ausgeklügelte Regelungen und Verordnungen. So durften die Reisenden die »Versammlungslocale« der sogenannten Stationshäuser erst eine halbe Stunde vor