Spenglers Nachleben. Группа авторов
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Bekanntlich wurde der erste Teil des Untergang des Abendlandes in Erwartung eines deutschen Sieges in Druck gegeben. Die erhaltenen Briefe Spenglers belegen zu Kriegsbeginn großen Optimismus. Alle paar Wochen wird verkündet, dass der Krieg in ein paar Wochen gewonnen sein wird. Seine Zuversicht flaut ab Mitte 1916 ab und meldet sich erst im Gefolge der Ludendorff-Offensive wieder. Das Ende sei im Sommer oder Herbst zu erwarten, heißt es im Mai 1918, dem folge dann die »Abdankung der romanischen Nationen« und die Bildung »eines deutschen Protektorat[s] über den Kontinent (bis zum Ural!)«.21
An Spott und Skepsis fehlt es nicht. Der Großprophet kennt sich in seiner eigenen Zeit nicht aus; warum also soll man ihm trauen, wenn er extravagant über sie hinaus spekuliert? Die übliche Replik lautet, dass hier eine ungehörige Vermischung von Kurz- und Langzeitprognosen stattfinde. Es sei nicht Aufgabe der Klimaforscher, Auskunft darüber zu geben, ob es nächste Woche regnet; ob Spengler im Ganzen recht behalte, entscheide sich Mitte des 21. Jahrhunderts, nicht im Spätsommer 1918. Freilich ist das eine Scheindebatte, die am Kern der Sache vorbeigeht, denn die historische Frage, ob Deutschland den Krieg gewinnt, ist zweitrangig gegenüber der philosophischen Frage, ob Deutschland den Krieg versteht. Entscheidend ist das chiastische Verhältnis der Fragen zueinander. Die zweite, wichtigere kann nämlich nur dann so richtig positiv beantwortet werden, wenn die Antwort auf die erste Frage entsprechend negativ ausfällt. Es sind die Verlierer, die den Krieg besser verstehen – vor allem dann, wenn der sogenannte Krieg zur Beendigung aller Kriege, the war to end all wars, rückblickend zur bloßen Schlacht schrumpft, weil er sich als Oberflächenphänomen eines tiefer gelagerten, fortdauernden geschichtlichen Prozesses entpuppt. Wer aber geschlagen am Boden liegt, ist diesem Ab- und Untergründigen der Geschichte näher als ein aufrecht stolzierendes Siegerbewusstsein, das sich in der trügerischen Illusion wiegt, alles sei nach Plan abgelaufen. Wer spricht von Siegen? Verstehen ist alles. Und darin sind die Unterlegenen den Siegern überlegen.
Der anfängliche Erfolg von Spenglers Buch beruht mithin nicht zuletzt darauf, dass es sich um ein verlockendes Kommunikationsangebot für Verlierer handelt. Kriege erzeugen naive Gewinner und sentimentalische Verlierer, denn die Niederlage zwingt diese zu Reflexionsleistungen, denen jene sich zu entziehen können glauben. Die Lektüre dient der Einübung in die raffinierte Kunst (in der der zweifach besiegte Ernst Jünger ein beachtliches Geschick entwickelte), einen Krieg besser zu verlieren, als die Gegenseite ihn gewonnen hat.
Im deutschen Sprachraum wird dieses Besiegtentheorem oft im Anschluss an Reinhart Kosellecks Schlüsseltext Erfahrungswandel und Methodenwechsel diskutiert.22 Dieser Aufsatz hat für uns den Vorteil, dass er den Nexus von Niederlage und Erkenntniszuwachs mit dem oben angedeuteten Problem der Geschichtserfahrungsbedingungen oder ›Geschichtsbarkeit‹ verknüpft. Im Prinzip geht es Koselleck um eine anthropologisch fundierte Geschichte geschichtlicher Erfahrung, mit Hilfe derer sich die variable Verschränkung von Erfahrung und Historie erfassen ließe. Zu dem Zwecke wird ein dreischichtiges Erfahrungsmodell vorgeschlagen, das nicht von ungefähr an Fernand Braudels dreischichtiges Zeitenmodell erinnert. Es gibt erstens unmittelbare Erfahrungen, die aufgrund der plötzlichen Differenz zwischen Vorher und Nachher ein Novum anzeigen, zweitens mittelfristige Erfahrungen, die vorangegangene Erfahrungen bestätigen und dadurch erfahrungsstabilisierend wirken, und drittens langfristige Erfahrungen wachsender Andersartigkeit, aufgrund derer frühere Erfahrungen hinterfragt und modifiziert werden müssen. Der kurzfristigen Überraschung folgt die mittelfristige Wiederholung und schließlich die langfristige Entfremdung. Letztere ist ein Novum auf höherer Ebene, das zur »rückwirkenden Entdeckung einer ganz andersartigen Vergangenheit«23 führt. Kurzum, es gibt das Neue, sodann das aus der Wiederholung des Neuen entstehende Alte, und schließlich die Notwendigkeit, das Alte wiederum neu zu sehen.
Diesen Erfahrungsweisen korrespondieren drei Arten methodischer Verarbeitung: Aufschreiben, Fortschreiben und Umschreiben (trennbares Präfix, Betonung auf der ersten Silbe). »Das Aufschreiben ist ein erstmaliger Akt, das Fortschreiben akkumuliert Zeitfristen, das Umschreiben korrigiert beides, das Auf- und Fortgeschriebene, um rückwirkend eine neue Geschichte daraus hervorgehen zu lassen.«24 Trotz ähnlicher Formulierungen gibt es keine feste Zuordnung von Erfahrungsmodus und Darstellungsweise. Weder erschöpft sich die unmittelbare Erfahrung im bloßen Beschreiben eines kontingenten Ereignisses, noch ist die umfassende Revision akkumulierter Erfahrungen immer schon und ausschließlich eine Sache des Umschreibens. Hier kann man mit Blick auf Spengler und Kittler den Begriff der Katastrophe fruchtbar machen – und das übrigens analog zu der Weise, in der Karl Heinz Bohrer in einem ähnlichen Zusammenhang auf die Kategorie der »Plötzlichkeit« rekurriert.25 Die Katastrophe erlaubt den direkten Durchgriff von der obersten auf die unterste Ebene historischer Erfahrbarkeit, also von der unmittelbaren Erfahrung auf die Umwandlung langfristiger Erwartungsstrukturen. Nicht nur erfahre ich hier und jetzt, dass etwas Neues geschieht; hier und jetzt wird schlagartig klar, dass es immer schon anders war. Dieser Implosion der Erfahrungsebenen entspricht auf der Darstellungsebene das Vermischen von Beschreiben und Umschreiben. Man denke an Goethes Versuch, am Abend der verlorenen Schlacht von Valmy die trübe Stimmung unter den Koalitionstruppen durch die Versicherung epochaler Zeugenschaft anzuheben: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Ob das damals eine aufpäppelnde Wirkung hatte, darf bezweifelt werden. Entscheidend ist, dass Goethes unerhörtes Weltereignis durch den Ausblick auf eine neue Zukunft eine neue Vergangenheit hinter sich abschließt. Die Französische Revolution hat sehr viel weniger Freiheit und Brüderlichkeit in die Welt gesetzt als von ihr behauptet, von der Gleichheit ganz zu schweigen, aber einen durchschlagenden Erfolg kann man ihr nicht absprechen: die Erschaffung des – von ihr so genannten – ancien régime. Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, wodurch die alte rückwirkend anders erscheint. Und genau das geschieht auch in Spenglers Kurzschluss von Zukunftsprognostik und Gegenwartsdiagnostik. Angesichts der Katastrophe entdeckt man auf dem Umweg über eine neue, bislang unverstandene Zukunft eine neue, bislang missverstandene Gegenwart, die dementsprechend neu erfahren, beschrieben und im Sinne Kosellecks umgeschrieben werden muss.
Das Beschreiben ist also immer schon ein Umschreiben, wenn und weil die Umschreibung aus der Beschreibung eines unerhörten Zäsurphänomens besteht. Hier steckt eine signifikante rhetorische Ähnlichkeit zwischen Spengler und Kittler. Trotz aller stilistischen Unterschiede ist ihr präzeptoraler Zeigestockgestus – eine moderne Variante prophetischen Bänkelsängertums – identisch: Kittlers inflationärem Gebrauch von Ausdrücken wie ›einfach‹, ›einfach nur‹ oder ›nichts als‹, von seiner Markenzeichen-Vokabel ›selbstredend‹ ganz zu schweigen (ist nicht der gesamte Theoriebestand Kittlers eine einzige Umschreibung – nicht trennbares Präfix, Betonung auf der zweiten Silbe – dieses Wortes? Also die Beschwörung dessen, was keinerlei Interpretation bedarf, weil es sich selbst und sein technisches Arrangement darstellt, entbirgt, vollzieht und zur Sprache bringt) – all das entspricht Spenglers nicht minder inflationärem Gebrauch raunender Passivphrasen, dieses oder jenes weltgeschichtliche Datum sei ›noch nie‹ oder ›hier zum ersten Mal‹ entdeckt, erblickt, erkannt. Sowohl Kittlers selbstredender Klartext als auch Spenglers an Goethes gegenständlicher Denkweise geschulte physiognomische Optik inszenieren den unmittelbaren Durchblick auf ein tieferes, eigengesetzliches Level, welches die oberflächlichen Ereignis- und Meinungsebenen strukturiert. Dem tiefen Blick auf Form und Gestalt entspricht ein halbes Jahrhundert später der kalte Blick auf Gestell und Schaltkreis.26
Um auf den martialischen Nexus von Krieg und Geschichte zurückzukommen – auf den kürzesten Nenner gebracht lautet Kosellecks Grundthese: Geschichte ist, wenn es anders kommt. Mit dem entscheidenden Zusatz allerdings, dass der Grad der Andersartigkeit nicht davon abhängt, wie lange vorher alles beim Alten geblieben ist. Der geschichtserzeugende