Spenglers Nachleben. Группа авторов
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Und weiter. Beide flirten (17.) zuweilen mit einem martialischen Apriori. Kittlers mittlere, voraphroditische Schriften kreisen um die Bedingungen, die der (Medien-)Geschichte vom Krieg, dem Vater aller technischen Dinge, aufgezwungen werden. Es gibt hier markante Unterschiede, doch eine Parallele liegt auf der Hand: Der martialische Fokus hängt (18.) mit der Rolle der Weltkriege in den Biografien beider Theoretiker zusammen – dazu gleich mehr. Weiterhin findet sich bei beiden (19.) eine gleichermaßen ehrgeizige wie unabgeschlossene Alterserweiterung der Theorie in die Ur- und Frühgeschichte, die (20.) mit dem Anspruch auftritt, dort vieles entdeckt zu haben, was das Fassungsvermögen der zuständigen Experten übersteigt. Diese Erweiterung ist (21.) mit einer Tendenz zur Operationalisierung verknüpft. Wenn Spengler in den Fragmenten zur Frühzeit der Weltgeschichte die Religion nicht als »Glaube« oder »Theorie« versteht, sondern als Handlungs- und Technikengeflecht; wenn er betont, dass hinter dem oberflächlichen Gerede vom »Schiffbau« ein »ganzer Komplex von Erfindungen« einschließlich »Boot, Ruder, Anlegeplatz« steckt; und wenn er fordert, irreführende Großbegriffe wie »Viehzucht« zu streichen oder eine grobe, stoffbasierte Epochenbezeichnungen wie »Steinzeit« durch eine technikbasierte Sequenz aus »Schlag-, Hammer- und Schmiedezeit«13 zu ersetzen – dann ähnelt das der kulturtechnischen Wende in Kittlers Spätwerk, die erstarrte ontologische Begrifflichkeiten in beweglichere ontische Ensembles aufzulösen sucht. Beider Kulturkritik durchläuft zwei Phasen: eine erste, in der sie ihren Mitmenschen vorwerfen, nicht zu wissen, in welchem geschichtlichen oder epistemologischen Wald sie sich gerade befinden, und eine zweite, in der Leuten nicht minder vorwurfsvoll beschieden wird, dass sie vor lauter Wald die einzelnen Bäume nicht sehen. Wobei zu fragen wäre, ob sich wie bei Kittler diese Tendenz auch im Falle Spenglers einer Selbstanwendung der eigenen theoretischen Prämissen verdankt. Wie dem auch sei, all dies führt (20.) in beiden Fälle zu der berechtigten Frage, ob und inwieweit sich das Alterswerk – dessen Erscheinen sich (21.) zunehmend umfangreichen Nachlasserschließungen verdankt – mit den Prämissen früher veröffentlichter Werke noch vereinen lässt.
All dies wird (22.) oft im Duktus hypothermaler Hypermaskulinität vorgetragen. Was wären Spengler und Kittler ohne die ständigen Beschwörungen von Kühle und Kälte? Die Medientheorie Kittlerscher Prägung ist eine Neuauflage jener Verhaltenslehren der Kälte, die Helmut Lethen am linken und rechten Rand der Weimarer Nachkriegskultur ausgemacht hat. Nicht zufällig war ›Eiszeit‹ eine prominente Selbstbeschreibung der deutschen Jugendkultur des Jahrzehnts, in dem Kittlers theoretische Eiswüsten wuchsen. Seine Medientheorie gehört zum new cold der 1980er, in der viel Energie darauf verwendet wurde, sich von der wärmer gestimmten Intimitätskultur des vorangegangenen Jahrzehnts abzusetzen. Winter is coming. Auf die Dauer jedoch, so Hans Ulrich Gumbrecht, war Kittler »die Kälte der eigenen medienhistorischen Gegenwartsdiagnostik […] unerträglich belastend geworden.«14 Mit seinem Eintritt in ein griechisches Reich, in dem die Sonne über der Ägäis nie unterzugehen scheint, mutierte er zum Theoretiker, der aus der Kälte kam. Diese Hypothermik ist (23.) eng verbunden mit einem Unbehagen an grassierenden humanistischen Anfechtungen, die oft so verärgert denunziert werden wie die Symptome einer verschleppten Krankheit. Stil und Attitüde beider verdanken sich dem fortwährenden Kampf gegen ihre inneren Sozialkundelehrer mit ihren homo homini agnus-Beteuerungen.
Bei beiden ist (24.) viel von historischen variablen Manifestationen von Musik und Mathematik die Rede. Beide haben (25.) ein recht ambivalentes Verhältnis zur angloamerikanischen Domäne, so wie auch (26.) in beiden Fällen die englischsprachige Rezeption ein Gemisch aus Amputation und progressiver Entdeutschung darstellt, das sich mit herkömmlichen Rezeptionsmodellen nicht mehr einfangen lässt.15 Beide nehmen es (27.) mit ihren Zitaten nicht so genau, und beide legen (28.) eine ausgesprochene Anhänglichkeit an Friedrich Nietzsche an den Tag, die vor zuweilen peinlich wirkenden Identifikationen nicht zurückschreckt. Beide sind (29.) gebürtige Sachsen mit borussianistischen Neigungen: der eine lobt den preußischen Sozialismus, der andere das preußische Offizierswesen. Und schließlich (30.) schnappen beide wie verstörte Vierbeiner so emsig nach der Leine, die sie an Hegel fesselt, dass man nicht weiß, ob sie die Leine entzweibeißen oder eine bereits zerrissene mit ihren Zähnen zusammenhalten wollen.16
Diesen Parallelen ließen sich ohne große Mühe dreißig weitere hinzufügen, doch ebenso leicht fiele es, sechzig offensichtliche Unterschiede zu benennen. Und noch einfacher wäre es, viele dieser vermeintlichen Parallelen als billiges Gerede zu entlarven. Vergleiche zwischen Kittler und Spengler laufen Gefahr, sich denselben Vorwurf einzuhandeln wie Spenglers Kulturvergleiche. Allzu oft bestehen sie aus dem Abhaken von Oberflächenähnlichkeiten, die bestenfalls zu aphoristischen Knalleffekten führen. Trotzdem: Einige der Analogien haben Hand und Fuß (oder, eingedenk der höheren Raubtiermetaphorik des späten Spengler: Klaue und Pfote). Es geht anders als im Falle Heideggers nicht um Einfluss. Selbst wenn er nachgewiesen werden könnte, die schwammige Allerweltskategorie Einfluss genießt ohnehin schon zu viel Einfluss. Eher findet sich das, was Biologen konvergente Evolution nennen: also die Tatsache, dass sehr weitläufig miteinander verwandte Organismen – z. B. Haie, Delfine und Ichthyosaurier – unter ähnlichen Umweltbedingungen ähnliche Strukturen entwickeln. Dieser ähnliche Umstand, so meine Ausgangsthese, ist der oben erwähnte achtzehnte Punkt. Sowohl bei Spengler als auch Kittler haben wir es – keineswegs ausschließlich, aber doch in entscheidendem Maße – mit Kriegsverarbeitungstheorien aus der Verliererperspektive zu tun. Das umfasst weitere Ähnlichkeiten, die oben schon erwähnt wurden und in den nächsten Abschnitten vertieft werden sollen.
Ave Victi, vae victoribus
Die Dichtung vom Untergang des Abendlandes hebt an mit einem Trommelwirbel:
In diesem Buche wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.17
Es gibt in der Weltliteratur nur einen anderen Text, der bereits im allerersten Satz so nachdrücklich auf seiner einzigartigen Vorreiterrolle besteht: »Je forme une entreprise qui n’eut jamais d’exemple et dont l’exécution n’aura point d’imitateur.« Ob Rousseaus Selbstanpreisung zu Beginn seiner Confessions berechtigt ist, sei dahingestellt, Spenglers ist es sicher nicht. Spätestens seit den detaillierten Belegen von Hans Joachim Schoeps ist bekannt, wie sehr das von Spengler verpönte 19. Jahrhundert ihm in Gestalt von Karl Vollgraf, Ernst von Lasaulx oder Jacob Burckhardt bis in zeitliche und wörtliche Details hinein allerlei Vorgaben geliefert hat.18 An anderer Stelle hat sich Spengler mit Blick auf sein eigenes Nachzüglertum bescheidener geäußert: »Es gibt keinen wirklich neuen Gedanken in einer so späten Zeit.«19
Wichtiger ist die hegelianische Konjunktion von Nachzüglertum und Erkenntniszuwachs. Der absteigende Ast führt zu aufsteigenden Einsichten; die Eule der Minerva erkennt erst im letzten