Spenglers Nachleben. Группа авторов
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Hier melden sich Althistoriker zu Wort.29 Wenn Geschichte das ist, was anders kommt als geplant, so gilt, dass es nirgendwann und nirgendwo auf dermaßen euphorische wie katastrophale Weise anders als erwartet zugegangen ist als zwischen dem sechsten und vierten vorchristlichen Jahrhundert in Athen. Die Zeit, die Athen erlebt, gleicht der, die Thomas Manns Teufel seinem Klienten Adrian Leverkühn verspricht: »Große Zeit, tolle Zeit, ganz verteufelte Zeit, in der es hoch und überhoch hergeht – und auch wieder ein bißchen miserabel natürlich, sogar tief miserabel«, eine Mischung aus »Erleuchtungen, Erfahrungen von Enthobenheit und Entfesselung« einerseits und »Leere und Öde und unvermögende[r] Traurigkeit« andererseits.30 Es gibt Marathon und Salamis, das Silber von Laurion und das Parthenon; und dann gibt es die Belagerung mitsamt Pest, das Desaster von Syrakus und die Ankunft Lysanders. Die vom Sieg über die Perser befeuerte machtpolitische Hybris Athens, das in den schönen Worten Christian Meiers quasi über Nacht vom »Kanton zur Weltmacht« aufsteigt, stößt in der Auseinandersetzung mit Sparta auf die Nemesis des unkontrollierbaren Krieges, der so gänzlich anders verläuft als von Perikles geplant. Um Kosellecks Leitdifferenz von Erwartung und Erfahrung durch das dramatischere Begriffspaar Heinz Dieter Kittsteiners zu ersetzen: Hart im politischen Raum, und am härtesten im kriegerischen, stößt Machbarkeit auf Unverfügbarkeit. Und deswegen gibt es in Athen auch Herodot und Thukydides, die kriegsverstörten Patriarchen der Historiografie. Letzterer ist der modellprägende Typus des Verlierer-Historikers. Wie Spengler beginnt Thukydides seinen Krieg und seine Kriegsgeschichte mit großer Zuversicht, und analog zu Spengler sieht er sich gezwungen, hundert veraltete und kurzatmige Erklärungen, die Herodotus noch etwas wahllos aneinandergereiht hatte, über Bord zu werfen, um das Unerwartete auf eine neue, historiografisch komplexere Weise zu erfassen. Anders als Spengler ist Thukydides direkt beteiligt, nämlich als General auf der Verliererseite, der noch dazu von seiner eigenen Stadt ins Exil geschickt wird, weil er es versäumt, das mit Athen verbündete, belagerte Amphipolis rechtzeitig zu entsetzen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben mit der Auflage, Historiker zu werden.31
Und Kittler wäre nicht er selbst, hätte er das alles nicht auf die ihm eigene spitzbübische Weise nebenbei ausgeplaudert. In einem Gespräch über die rumänische Revolution,32 die seinerzeit unter Federführung Vilém Flussers als primär medial gesteuertes Ereignis rezipiert wurde, stellt Kittler die These auf, Nicolae Ceauşescu und seine Securitate seien derart auf Schreibmaschinen fixiert gewesen, dass ihnen das subversive Potential neuer Medien entgangen sei. »Die Securitate war altmodisch, sie hat von jeder Schreibmaschine einen Abdruck gemacht und gleichzeitig die Videokamera als revolutionäres Medium übersehen.« Weswegen, so Kittler, Rumänen in Ostberlin »geradezu tonnenweise«33 Videokameras kauften, sie nach Hause schmuggelten und mit großem Erfolg gegen das Regime einsetzen. Ob das den historischen Tatsachen entspricht, ist zweifelhaft. Hier geht es jedoch um die Grundthese, dass Machthaber sich im technologischen Bereich verhalten wie naive Kriegsgewinner. Ihr Blick ist rückwärtsgewandt, während die Revolutionen, von denen sie entthront werden, die neuesten Medien aufgreifen.
In diesem Zusammenhang springt Kittler von Ceauşescu und Timişoara zu Hitler und Stalingrad. So wie die polizeidienstliche Erfassung rumänischer Schreibmaschinen Ceauşescu zum Glauben verführte, er habe sein Land im Griff, so erzeugte die ständige telekommunikative Erreichbarkeit seiner Armeen bei Hitler den Eindruck, er habe den gesamten Kriegsraum unter Kontrolle:
Solange die Funkverbindungen noch stehen, ist der russische Schlamm auf einer bestimmten Ebene weg. Das erzeugt eine virtuelle Machbarkeit – zum grossen Schaden der Panzergruppen selbst. Feldmarschall Paulus war ja bis zum Zeitpunkt seiner Kapitulation noch telefonisch erreichbar.34
Und nun der Clou: Kittler behauptet nämlich – und ich bin noch auf keinen Text oder Sachverständigen gestoßen, der das bestätigen konnte –, dass niemand anderes als der junge Reinhart Koselleck für die technische Verbindung von Hitler zu Paulus zuständig war. Haut- bzw. hörernah erlebt Koselleck das Verenden der telekommunikativ beflügelten Hybris Hitlers in der unverfügbaren Steppe zwischen Don und Wolga. Se non è vero, è ben trovato: Als Parasit des militärischen Fernmeldewesen belauscht der zukünftige Historiker das kriegsbedingte Auseinanderklaffen von Erwartung und Erfahrung. Der Interviewer ist beeindruckt: »Das ist ja wirklich abgefahren […] Koselleck und General Paulus am Telefon … Das ist nun tatsächlich die perfekte geschichtsphilosophische Konstellation.« Darauf Kittler trocken: »Ja, so wird man Historiker.«35 Quod erat delirandum.
Hand und Mord: Zur heroischen Evolution
So wird man als Verlierer Geschichtswissenschaftler (Koselleck), Geschichtsmorphologe (Spengler) oder Geschichtsmythologe (Jünger) – und unter Umständen eben auch militärgeschichtskundiger Medienwissenschaftler. Was die Frage aufwirft, wie Kittler den Zweiten Weltkrieg umschreibt. Doch um ihn nicht in die Nähe von Leuten zu rücken, zu denen er nicht gehört: Umschreibung ist nicht gleich Revisionismus. Es geht wie bei Spengler um eine Ebenenverlagerung, im Verlaufe derer die Beschreibung einer vermeintlich tieferen Ebene mit der Umschreibung der von ihr abhängigen höheren zusammenfällt.
Ich habe an anderer Stelle näher ausgeführt, wie man die prekäre Rolle des Krieges im Oeuvre Kittlers vermittels eines Tripel-M Schemas analysieren kann: Der Krieg ist bei ihm Motor, Modell und Motivation.36 Motor, weil in den martialischsten Texten der Krieg die Medienentwicklung vorantreibt, und Modell, weil der Krieg auch als Muster und Analogie der Medienentwicklung fungiert. Der Krieg ist sowohl explanans als auch illustrans. Einerseits bestimmen Medien unsere Lage und der Krieg wiederum die Lage der Medien, andererseits bekriegen und überbieten Medien sich in quasi-martialischen Eskalationen, die – ›selbstredend‹ – in Kriegszeiten besonders deutlich hervortreten.
Wie nicht anders zu erwarten, hat Kittlers These vom martialischen Apriori der Medien ganze Heeresgruppen von sachlichen und empirischen Einwänden gegen sich aufgebracht. Die These ist – wie so manche andere aus seiner Feder – von brachialer Plakativität: Sie ist so wahr, dass sie auch dann wahr bleibt, wenn man sie auf den Kopf stellt, wobei es nach einer Weile schwer fällt, Köpfe und Füße voneinander zu unterscheiden. Das martialische Apriori der Medien vermischt sich mit dem medialen Apriori des Krieges. Lange bevor es zum Gemeinplatz der neuen media militarism studies wurde, hat Kittler darauf hingewiesen, dass Medienfortschritte im Kern Feinderkennungsfortschritte sind. Weder beginnt das erst mit Drohnen und kamerabestückten Lenkwaffen, noch geht es nur um Menschengegner. Van Leeuwenhoeks Mikroskop, um nur eines von unzähligen Beispielen zu erwähnen, erschließt unseren Sinnesorganen unzugängliche Kleinstwelten, und was entdecken wir dort? Allerlei gefährliches Gewimmel, das es zu bekämpfen oder als Waffe gegen andere Mikroskopbesitzer einzusetzen gilt. Medienerweiterung ist Kriegserweiterung. Marshall McLuhan und Carl Schmitt marschieren im Gleichschritt durch die Geschichte: Der Feind ist unsere mediale Expansion als Gestalt.
Stellt man in diesem Zusammenhang Kittler neben Spengler, so ergibt sich zunächst ein gegenläufiges Bild. Während in Kittlers zunehmend abendländisch proportionierten Altersprojekten der Krieg gegenüber der Liebe und den Göttern in den Hintergrund tritt, rückt in den zunehmend anthropologisch ausgerichteten Zettelkästen des älteren Spengler der Krieg immer mehr in den Vordergrund.37 Der Bismarck-Verehrer Spengler arbeitet an