Yan Chi Gong. Frank Rudolph
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Die hier vorgestellten und kommentierten Texttafeln wurden von Xióng Dàomíng (熊道明, gest. 1986)1 am 23. Mai 1963, das heißt, noch vor der Kulturrevolution, diktiert und von einem alten Kalligraphie-Meister namens Pān (潘)2 niedergeschrieben. Kenner der Kalligraphie werden die meisterhafte Schreibkunst der Zeichen auf den Tafeln zu schätzen wissen. Eine derartige Qualität sieht man heute in China nicht mehr sehr oft. Meister Xióng Dàomíng hatte sich einen der Allerbesten seines Faches für die Niederschrift ausgesucht, was beweist, wie wichtig ihm diese Arbeit war. Das Diktat erfolgte von Xióng Dàomíng anhand von alten Dokumenten des xiákè3 Yáng Zuānkuí (楊鑽魁)4, seines Lehrers, welcher einer der letzten großen Kampfkunstmeister des alten China war. Der Kalligraphie-Meister bestand damals darauf, dass sein Name mit auf die Titelseite des Buches kommen sollte und er somit als Experte des Yàn Chí Gōng anerkannt würde. Xióng Dàomíng gab sich widerstrebend damit einverstanden, obwohl der Kalligraph niemals trainiert hatte, sondern lediglich am Ruhm des Buches teilhaben wollte. Auch das betont den Wert des Textes.
Als der Text fertig geschrieben war, wollte das Forschungsinstitut der damaligen Erziehungs- und Sportuniversität von Wǔhàn5 den Text veröffentlichen und als Forschungsmaterial aufnehmen. Der Kalligraph brachte es zum Abschluss und war gerade dabei, die Verhandlungen mit der Universität durchzuführen, als er plötzlich an einem aggressiven Krebs erkrankte und starb.
Nur Großmeister Xióng Dàomíng hatte die Berechtigung, dieses gōng zu veröffentlichen und zu verbreiten. Es ist sein Buch und sein Wissen. Er ist der authentische Erbe dieser Kunst.6 Sein Meister, der xiákè Yáng Zuānkuí, beherrschte viele sehr »gute und wirkliche Dinge« der Kampfkunst. Er lehrte jeden seiner Schüler etwas anderes und keine zwei Personen dasselbe. Das Yàn Chí Gōng gab er an seinen jüngsten Schüler Xióng Dàomíng weiter.
Nach dem Tod des Kalligraphen zog Xióng Dàomíng die Veröffentlichung zurück und behielt das gesamte Material ein. Der Grund war sein Aberglaube. Meister Xióng sah es als Schande an, dass ein an Krebs Erkrankter mit der Kunst des Yàn Chí Gōng in Verbindung gebracht werden könnte. Er betonte immer wieder, dass Menschen, die Yàn Chí Gōng üben, keinen Krebs bekommen können, da sich in ihrem Körper nichts festsetzen kann, das zu Tumoren führt. Außerdem sah er es als ein daoistisches Omen an. Der Daoismus lehnt jede Form von Vermarktung ab. Es darf nichts veröffentlicht und angepriesen werden, schon gar nicht von Uneingeweihten, weil die Natur Stärke, die sich selbst darstellt, verachtet und als Gegenstück der Natürlichkeit ansieht.
Xióng Dàomíng hatte eine große Liege, unter der er allerlei Dinge aufbewahrte und auf der er immer saß, wenn seine Schüler bei ihm trainierten. Nur er allein fand sich dort zurecht. Neben Geschenken von Schülern wie Schnapsflaschen oder Zigaretten befand sich dort auch ein Koffer, in dem er all seine Materialien über die Kampfkunst aufbewahrte. Unter anderem die Kalligraphien über das Yàn Chí Gōng. Erst kurz vor seinem Tod gab Meister Xióng das Material an meinen Lehrer Li Zhènghuá weiter, und ich erhielt die Unterlagen von diesem im Jahr 2012.
In dem Text werden wichtige Prinzipien des Daoismus und der chinesischen Medizin erklärt und es wird erläutert, wie die Bewegungen auf den Körper wirken. Der Inhalt dieses Textes geht auf ein nahezu 2 000-jähriges Wissen zurück und ist sowohl eng mit der Philosophie des Daoismus als auch mit dem Wirken von Dámó7 verbunden.
Die Vorworttafeln 1 bis 16 erklären Grundlegendes zum geistigen Hintergrund und zur Praxis des Yàn Chí Gōng. Yàn Chí Gōng war, wie Xióng Dàomíng schrieb, ursprünglich eine daoistische Trainingsmethode. Diese wurde bereits von Dámó (達摩) als inneres Haupt-Gōng ins Shàolín-Training aufgenommen. Es durfte nur an einen auserwählten Personenkreis innerhalb des Shàolín weitergegeben werden.
Die starre Trennung zwischen Daoismus und Buddhismus, wie sie heute besteht, war anfangs nicht vorhanden. Ein reger Austausch von Wissen zwischen beiden war früher etwas ganz Normales. Viele gute Trainingsmethoden und auch Techniken wurden vom Buddhismus weitergegeben und verbreitet, stammten jedoch ursprünglich aus dem Daoismus. Denn der alte Daoismus verbreitete sich und seine Lehre nicht gern. Dies gilt auch für das Yàn Chí Gōng.
Die Tafeln 17 bis 19 beschreiben die drei Teile des Yàn Chí Gōng mit jeweils sieben Übungen pro Teil. Das heißt, der gesamte Komplex besteht aus 21 Übungen. Mein Lehrer, Meister Li Zhènghuá, der Erbe Xióng Dàomíngs, hat mir gestattet, das Yàn Chí Gōng der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, mit Ausnahme der letzten drei Übungen, die traditionell nicht öffentlich gelehrt werden dürfen.
Die Tafeln sind generell als Hinweise zur Unterstützung der praktischen Anwendung bestimmt, für Personen, die die Übungen bereits beherrschen. Es war also unbedingt notwendig, den Text detailliert zu erläutern, damit er für den Leser einen praktischen Nutzen ergeben kann. Auf Grundlage dieser Tafeln und der Erläuterungen kann die Linie dieser uralten Trainingsmethode fortgeführt und für eine breite Öffentlichkeit nutzbar gemacht werden. Ein gutes Trainingssystem muss logisch aufgebaut sein und sich wissenschaftlich begründen lassen. – Jiǎng dàolǐ (講道理) bedeutet, den Grund für etwas erklären zu können. Genau das werden wir in diesem Buch tun.
Maik Albrecht, Wuhan, 2014
Zum Begriff gōng
In der westlichen Welt hat sich heute für chinesische Gesundheitsübungen der Begriff qìgōng eingebürgert. Im Folgenden sollen die Begriffe gōng und qìgōng näher erläutert werden, da dies für das Verständnis dessen, worum es sich bei Yàn Chí Gōng handelt, notwendig ist.
Gōng (功) wird allgemein mit Arbeit, Leistung oder Verdienst übersetzt. Der chinesische Begriff setzt sich zusammen aus den Zeichen gōng (工) für Arbeit und li (力) für Kraft. In Verbindung mit anderen Zeichen gibt es noch folgende Bedeutungen: Yònggōng (用功) steht für »arbeitsam, fleißig«, gōngkè (功課) für »Hausaufgabe«, gōngxiào (功效) für »Wirksamkeit« und chénggōngde (成功的) für »erfolgreich«. Im Westen wurde der Begriff gōng im Zusammenhang mit einem Begriff, der heute oft als Synonym für chinesische Kampfkunst verwendet wird, bekannt: gōngfu (功夫) beziehungsweise Kung Fu. Tatsächlich war gōngfu ursprünglich nur eine Bezeichnung für den Zeitaufwand, welcher nötig ist, um eine bestimmte Sache zu meistern. Egal, worum es sich hierbei handelt. Der Begriff wird daher je nach Zusammenhang auch mit Fähigkeit, Können, Mühe, Anstrengung oder Zeitaufwand passend übersetzt. Im Folgenden geht es um die Verwendung des Begriffes gōng im Sinne von körperlicher Ertüchtigung beziehungsweise der Steigerung der Vitalität.
Im Zusammenhang mit den meisten ursprünglichen Übungen taucht in China der Begriff qìgōng (氣功) nicht auf. Man bemühte die geheimnisvolle Kraft des qì nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Es wird oft vergessen, dass die Chinesen ein sehr pragmatisches Volk sind. Diesem Pragmatismus, der praktischen Anwendung des Wissens, wird buchstäblich alles untergeordnet, auch das Himmlische und die Spiritualität. Chinesen pflegen, ganz im Jetzt zu leben. Sie sind selten religiös. Sie haben für gewöhnlich keinen Drang zu missionarischer Verbreitung ihrer Anschauungen. Sie sind vorrangig interessiert an praktischen, realen, sichtbaren Ergebnissen. Wie diese zustande kommen, mit welcher Philosophie, welcher Religion oder welchem Glauben, spielt dabei keine Rolle.