Yan Chi Gong. Frank Rudolph
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Man kann die Funktion des Körpers sehr gut mit den Abläufen in einer Fabrik vergleichen:
Erstens: Will man in einer Fabrik etwas herstellen, werden zunächst gute Rohstoffe benötigt. – Dies entspricht der Nahrungs- und Sauerstoffaufnahme.
Zweitens: Diese Rohstoffe müssen innerhalb der Fabrik gut verarbeitet und effektiv transportiert werden, und die guten müssen von den schlechten Bestandteilen getrennt werden. – Dies entspricht dem Blutkreislauf, der Nährstoffverarbeitung und der Verdauung.
Drittens: Zuletzt muss ein gutes Produkt aus der Fabrik kommen, und der Abfall muss entsorgt werden. – Das Produkt entspricht einem gesunden, starken Körper. Die Abfallentsorgung entspricht den Ausscheidungen sowie der Ausatmung, die den verbrauchten Sauerstoff in Form von Kohlendioxid wieder abgibt.
Gōng-Übungen spielen in der Körperfabrik die Rolle eines effektiven Managements, das dafür sorgt, dass alle Vorgänge reibungslos und auf optimale Weise ablaufen. Bauen Sie sich Ihre starke und gut funktionierende Körperfabrik selbst auf!
Die alten Daoisten, Mediziner und Kampfkunstmeister sowie die Shàolín-Mönche waren Menschen, die die Natur in all ihren Erscheinungsformen einschließlich der Anatomie, beziehungsweise das Universum insgesamt genauestens beobachteten und tiefgründig erforschten. Sie kamen schon sehr früh zu dem Schluss, dass alles gemäß denselben Grundlagen funktioniert. Auf dieser Basis wurden die chinesische Medizin, die Kampfkünste und die Gōng-Übungen entwickelt. Somit ist diese Analogie zwischen Körper und Fabrik durchaus im Sinne dieser frühen Forscher.
Der Ursprung der gōng
Die ersten gōng sind bereits viele Jahrhunderte alt. In der Vergangenheit wurde der Begriff gōng hierfür allerdings oft gar nicht verwendet. Die alten Bezeichnungen sind manchmal sehr blumig, manchmal aber auch vollkommen klar. Zu den ältesten dieser Übungen gehört das »Spiel der fünf Tiere«. (chin. wǔ qín xì 五禽戲) von Huá Tuó (華佗, ca. 145 - 208), das heute nicht mehr im Original existiert. Alle Übungen, die heute unter diesen Begriff fallen, sind allenfalls blasse Spiegelbilder des Originals. Nicht so alt, aber mindestens ebenso bekannt, sind die »Acht Brokate«. (chin. bāduànjǐn 八段錦) des Generals Yuè Fēi (岳飛, 1103 - 1142). Diese und ähnliche Übungen, wie yǐntǐ (引體), das »Dehnen nach dem Vorbild von Tieren«, sind in erster Linie zur Erhaltung der Vitalität gedacht. In vielen Kampfkünsten gibt es vereinfachte Formen komplexerer Gōng-Programme.
Die Gōng-Übungen gehören zu den Wurzeln der chinesischen Kampfkunst. Ihre Grundlage ist die chinesische Medizin und die Lehre von der Gesunderhaltung des Körpers. Auch die Kampfkunst dient letztendlich der Gesunderhaltung des Körpers im Kampf, da ihr vorrangiges Ziel der Selbstschutz in Kämpfen auf Leben und Tod ist.
Yàn Chí Gōng und qìgōng
Es ist ohne die Kenntnis einiger Zeichen wegen der verschiedenen Transkriptionen des Chinesischen manchmal schwierig, sich über die genaue Bedeutung des einen oder anderen Begriffs klar zu werden. Wenn man die von China vorgegebene Pīnyīn-Umschrift verwendet, lassen sich einige Fehler jedoch vermeiden. Das früher verbreitete Wade-Giles-System war in einigen – jedoch nicht in allen – Bereichen eher mangelhaft. Auf den Begriff qìgōng bezogen bedeutet das Folgendes: Nach der Wade-Giles-Umschrift liest sich Yàn Chí Gōng als yanchikung und qìgōng als chikung. Für Uneingeweihte, die sich nach der alten Transkription richten, sieht das so aus, als wäre das yan-chikung nur eine besondere Form des chikung (oder ch’i-kung), da sich die Schreibweisen nicht voneinander unterscheiden. Erst bei der Pīnyīn-Umschrift wird deutlich, dass es sich um zwei verschiedene Begriffe handeln muss, denn hier schreibt man (yàn)chígōng und qìgōng mit unterschiedlichen Buchstaben und verschiedenen Betonungszeichen. Verwendet man diese Zeichen, verschwinden die letzten Zweifel. Hier sieht man den Unterschied zwischen dem chí (弛), was entspannen bedeutet, und dem qì (氣), was Energie bedeutet, sofort. Das qì (氣), die Lebensenergie, ist etwas Selbstverständliches und bei allen Menschen vorhanden. Deswegen muss es aus Sicht der Chinesen nicht eigens erwähnt werden.
Freilich lässt sich an der Tatsache, dass sich im Westen der Oberbegriff qìgōng sowohl für echte Gōng-Übungen als auch für die modernen Übungen, die heute auch in China als qìgōng bezeichnet werden, eingebürgert hat, kaum noch etwas ändern. Nach westlichem Verständnis ist dann natürlich der Yàn-Chí-Gōng-Komplex ebenfalls ein Qìgōng-Übungssystem und, wie in dieser Arbeit gezeigt wird, eines der ursprünglichsten und effektivsten überhaupt. Er umfasst etliche Techniken, auf welchen letztendlich die heutigen Qìgōng-Übungen aufbauen, sofern diese nicht frei erfunden sind.
Der Unterschied zwischen gōng und qìgōng
Ein gōng ist ein systematisch aufgebautes System. Es ist im Prinzip wie eine mathematische Gleichung – führt man die Lösungsschritte korrekt aus, so gelangt man zum richtigen Ergebnis. Bei seriösen Übungen heißt das, durch die richtigen Bewegungen wird beziehungsweise bleibt der Körper flexibel und kräftig – und nachhaltig gesund.
Die heutigen Arten des qìgōng tragen zu dem Missverständnis bei, dass die alten gōng gewissermaßen zum Zeitvertreib betrieben werden könnten. Qìgōng ist etwas für Studenten und Senioren geworden, die es als leichte Morgengymnastik in Parks betreiben. Der Begriff selbst ist in diesem Zusammenhang modern. Die Bezeichnung qìgōng für chinesische Übungen stammt aus den 1950er Jahren. Es heißt, der Arzt Liú Guìzhēn (劉貴 珍) verwendete den Begriff als erster für diese Gesundheitsübungen.8 Die damaligen Meister wurden nicht zu Rate gezogen. Die unterschiedlichen Stilarten des qìgōng sind zum Teil ganz neue Entwicklungen. Sie wurden in den meisten Fällen auch nicht von Könnern kreiert, sondern von pragmatischen Geschäftsleuten, die zwar nicht über herausragendes fachliches Können verfügten, dafür jedoch über einen ausgeprägten Geschäftssinn. Manche der neuen Übungen basieren jedoch wenigstens teilweise auf den jahrtausendealten Traditionen. Die weitaus meisten haben allerdings kaum noch einen Bezug zu traditionellen Vorbildern.
Als mein Lehrer in seiner Jugend Gōng-Übungen erlernte, vermieden die wirklichen Meister in diesem Zusammenhang den Begriff qìgōng. Das rührte daher, dass sie hierbei keinen Zusammenhang mit der effektiven Körperschule sahen, die sie selbst trainierten und lehrten. Diese neuen gōng sind keine Weiterentwicklungen, sondern Rück- beziehungsweise Fehlentwicklungen. Qìgōng war in den Augen dieser Meister eine überflüssige Kreation. Das kann man mit dem japanischen Shōtōkan-Karate vergleichen. Shōtōkan-Karate ist nicht einmal hundert Jahre alt. Die verschiedenen okinawanischen Stile sind jedoch viel älter und haben ihre Ursprünge zu einem guten Teil in China. Meister Mabuni Kenei (摩文仁 賢 榮, geb. 1918) erzählte, wie einst Karate-Schüler des shōtōkan aus Japan