Dr. Love und die schüchterne Forelle. Michael Bresser
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Dr. Love und die schüchterne Forelle - Michael Bresser страница 7
Gerhards Gesicht läuft rot an. »Was sollte ich denn machen? Das System hat mich gezwungen. Ich finde es unfair, dass du mir das vorwirfst. Du weißt doch, dass ich mit Kollegen in den Siebzigern eine eigene Schulform gründen wollte. Leider haben mir die Behörden einen Stein nach dem anderen vor die Füße geworfen haben. Nee, Timo, ich habe mein Bestes versucht, aber die Zeit war damals nicht reif für die Singer-Pädagogik. Da musste ich mich anpassen. Aber die Hoffnung stirbt nie. Es werden bessere Zeiten kommen. Das kann noch etwas dauern. Die heutigen Schüler werden doch zu bloßen Konsumenten erzogen, keiner wehrt sich. Nur so können Konflikte wie die Finanzkrise oder der Irak-Krieg entstehen.« Endlich holt er Luft.
»Wegen deutscher Schüler?« Seine Argumentation verblüfft mich immer wieder. Bevor er zu einer neuen Tirade ansetzt, sage ich: »Ich habe mit ›Eins‹ bestanden. Alles paletti, Gerhard.«
Ich kann meine Niederlage einfach nicht eingestehen. Das würde zu weiteren Diskussionen mit Gerhard führen, auf die ich keine Lust habe. Im schlimmsten Fall würde er Beschwerdebriefe an Bundespräsident Wulff schreiben. Als ich auf dem Gymnasium einmal eine Geschichtsklausur versemmelt hatte, schickte er einen sechsseitigen Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Schließlich stammt der auch aus Niedersachsen. In diesem unsäglichen Schreiben beklagte er sich über die unerträglichen Zustände an deutschen Schulen, faschistische Lehrer und den Niedergang des Abendlandes. Herr Schröder oder einer seiner Sekretäre haben sogar geantwortet und sich für sein Interesse an der politischen Gestaltung unseres Landes bedankt. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt, als mein Vater meinem Geschichtslehrer Dr. Podler dieses Schreiben unter die Nase hielt:
Der sagte dazu ganz ruhig: »Werter Kollege Singer. Ihr Engagement in allen Ehren. Aber Timos Aussage, Adenauer sei ein größerer Agitator als Göbbels gewesen, entspricht nicht dem heutigen Stand der Forschung. Und diesen muss ich bewerten.« Den Rest der Diskussion gebe ich lieber nicht wieder. Damals hatte ich Gerhards Sprüche unreflektiert niedergeschrieben, ohne zu bedenken, dass diese nicht der allgemeinen Auffassung entsprachen. Nach zwei Stunden gab Gerhard klein bei, verfluchte aber alle reaktionären Kollegen. Das gab einen Rüffel vom Direktor, und Vater hielt eine Zeit lang die Klappe. Mein Leben auf der Schule hat das nicht leichter gemacht, aber ich habe überlebt. Das ist schließlich alles. Auf neue Diskussionen habe ich keine Lust, daher verschweige ich meine Niederlage.
»Das ist toll. Ich freue mich so«, jubiliert Mutter. »Ich wusste, dass mein Junge Erfolg im Leben haben würde.«
»Respekt, Timo«, freut sich auch Vater. »Du hast es den Deppen von der Prüfungskommission gezeigt. Ein Singer lässt sich vom System nicht kleinkriegen.«
Innerlich zieht sich mir alles zusammen.
»Ich finde es natürlich auch aus finanziellen Erwägungen toll, dass du dein Studium beendet hast«, frohlockt er.
»Warum, Gerhard?«
»Na, ich brauche dich nicht mehr zu unterstützen. Du hast doch eine Stelle als Volontär. Nicht, dass ich dir ungern unter die Arme gegriffen hätte. Aber es entlastet unser Budget doch sehr, wenn du auf eigenen Füßen stehst. Egal, lasst uns ins Wohnzimmer gehen.«
Gott sei Dank habe ich für heute das Kapitel Magisterprüfung abgeschlossen. Denke ich zu diesem Zeitpunkt jedenfalls. Aber es kommt immer schlimmer, als man denkt. Dabei bin ich kein unverbesserlicher Pessimist, sondern bodenständiger Realist. Und meine etwas reservierte Ansicht über die Freundlichkeit des Lebens bestätigt sich wenige Sekunden später.
Denn im Wohnzimmer sitzt die übliche Bagage, die jede Familienfeier zur Klamaukorgie verkommen lässt. Ich frage mich, ob andere Menschen auch so peinliche Verwandte haben wie ich, kann es mir aber beim Willen nicht vorstellen.
Zunächst thront am Kopfende des Esstisches Opa Günter. Sein Eichenstock mit Drachenkopf lehnt am Tisch. Eigentlich braucht der mittlerweile achtzigjährige Unternehmer keine Gehhilfe. Er denkt aber, er müsse sich seinem Alter gemäß verhalten, deshalb der Stock. Daneben sitzt Oma Ilse. Sie ist zwei Jahre älter als Opa, sieht aber zwanzig Jahre jünger aus. Zumindest aus der Ferne. Diverse Operationen bei Dr. Lappmann, Hannovers Schönheitschirurg Nummer eins, machen es möglich. Mit fünfundsiebzig hat sie sich die Brüste machen lassen, die Haut am ganzen Körper wurde geliftet, Botox in die Lippen gespritzt, Haare transplantiert und dauerhaft eingefärbt. Das sind die kleinen Korrekturen, die ich mitbekommen habe. Wenn ich sie frage, ob dieses Retuschieren des natürlichen Verfallprozesses notwendig sei, antwortet sie stets: »Jungchen, ich rauche nicht, trinke nur wenig und gönne mir sonst keinen Luxus.« Recht hat sie. Ihr Leben auf einem 1500 Quadratmeter großen Grundstück mit Reitbahn, Schwimmbad und eigenem Gärtner empfindet sicherlich der Großteil der deutschen Bevölkerung als bescheiden.
Daneben besäuft sich Onkel Udo. Das ist Mas Bruder, dem ein Bauernhof in der Nähe der früheren Grenze bei Helmstedt gehört. Onkel Udo trinkt nur eiskaltes, fast gefrorenes Bier und Jägermeister. Etwas anderes kommt ihm nicht in die Kehle, dafür aber reichlich. Keiner kennt ihn nüchtern, da er bereits zum Zähneputzen Jägermeister gurgelt. So meine Theorie. Er ist auch der Grund, warum ich selber keinen Kräuterlikör aus Wolfenbüttel zu mir nehme. Wenn ich die Flasche mit Hirsch sehe, denke ich immer an eine Kirche. Kein Scherz. Das Bild ist schwarzweiß gehalten, also älter. Dort stehen Udos Eltern um das Taufbecken und halten ein kleines fettkrankes Baby in den Armen, das eine Sonnenbrille trägt und an einer Kippe im Mundwinkel saugt. »Wollt ihr Eltern von Udo Kallupke dieses Kind taufen? Paten haben sich leider nicht bereit erklärt, dieses wunderbare Wesen auf seinem Lebensweg zu begleiten.«
»Ja, so machen wir’s«, erklärt Udo Vater und rülpst.
»So soll es sein«¸ erklärt der Pfarrer und kippt vier 1,5-Liter-Flaschen Jägermeister ins Becken.
»Jetzt muss ich dir leider deinen Nuckel wegnehmen, mein kleiner Hosenscheißer«, sagt Vater Kallupke und zieht Klein-Udo die Zichte aus dem Mund, woraufhin Udo bitterlich zu weinen beginnt.
»Kriegst ihn gleich wieder, Sohnemann«, versichert der Altbauer.
Dann nimmt der Pfarrer den Jungen. »Hiermit taufe ich dich, Udo Bernhard Kallupke, im Namen des Vaters, der Sohnes und des Heiligen Geistes. Des Jägermeistergeistes.« Mit diesen Worten taucht er das Baby in die Brühe und hält es drei Minuten in den Likör.
Dann sagt Mama Kallupke: »Sollten wir ihn nicht wieder an die Luft holen?«
Der Alte winkt ab: »Jägermeister hat noch keinem geschadet. Kräuter sind was Gutes, und der Alkohol macht sie länger haltbar.«
Der Pfarrer leckt sich verlegen etwas Jägermeister vom Finger. »Verzeihung, da habe ich anscheinend den Kleinen vergessen.«
Er zieht ihn aus dem Becken, das Kind strahlt erstaunlicherweise über alle vier Backen, dann steckt der Vater ihm wieder die noch glimmende Zigarette in den zahnlosen Mund.
Bei dieser Vision ekelt es mich. Andere ekeln sich auch vor Onkel Udo, denn besoffen verfehlt er beim Pinkeln regelmäßig die Toilettenschüssel und setzt das ganze Bad unter Urin. Aber irgendwie gehört er dazu und wird daher immer eingeladen.
Ich jedenfalls könnte auf den Landwirt gut verzichten. Seine Frau, Tante Gerti, ist eher unauffällig und in der ganzen Familie beliebt. Keiner versteht, was sie an dem Suffkopp findet. Die Aufgaben in dieser Ehe sind klar verteilt: Sie fährt ihn vom Frühschoppen zum Bierbrunch, vom Stammtisch zum Absacker. Immerhin führen sie ein geregeltes Leben.
»Hey, Timo, mir ischt nach Rotsch«, singt oder besser grölt er, als er mich sieht.
»Hallo, Onkel Udo. Alles klar im Schweinestall?« Ich setze ich