Die Fahrt ins Nichts. Reinhold Eichacker

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Die Fahrt ins Nichts - Reinhold Eichacker

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Lichtspieltheaters. Die endlosen Reihen der Moscheen und Tempel, die Badeplätze mit den Tausenden badender Pilger, die hier mit Inbrunst das heilige Wasser tranken, in dem tagaus, tagein zahllose Leprakranke Heilung suchten, und verkohlte Überreste verbrannter Leichen vorbeitrieben... Waranasi, die Stadt des heiligen Wassers... Benares... die Stadt des Wahnsinns...

      Wie aus einer anderen Welt kam die Stimme da vorne zu ihm, und doch glaubte er, die Augen der Frau ganz dicht vor sich zu sehen, wie zwei flammende Sonnen. Dazu dieser seltsame, süßliche Duft...

      »Wenn Sie gewusst hätten, dass ich Sie rief, wären Sie also nicht gekommen?« gurrte es zärtlich.

      Benares... Waranasi... bohrte es in seinem Gehirn.

      »Nein!« wollte es in ihm aufbegehren, aber der feine, bläuliche Rauch der Zigarette in seinem Munde umfing sein Willenszentrum mit einem seligen Rausch.

      »Ich - weiß - nicht,« meinte er leise. Es war wie ein Hauch. »Ich - weiß - nicht ...«

      Wie eine Liebkosung fühlte er eine weiche Hand auf seiner Stirn, einmal - zweimal - dann sank er glücklich lächelnd zurück auf sein Polster - tief - tief - immer tiefer...

      Die Indierin schaute stumm auf ihn hinab. Unverrückt bohrten sich ihre Blicke fest auf die Nasenwurzel des Schlafenden, dessen Kopf in ihrer geöffneten Hand lag.

      Leise, wie eine fremdartige Beschwörungsformel kamen kurze fremdartige Silben aus ihrem Mund.

      »Tat wam asi - Du bist ich - ich bin du -«

      Dann schlug sie den Gong und verschwand durch den Vorhang...

      2

      Wie ein silbernes Schlangenpaar zog sich das schmale Gleis der neuen elektrischen Bahn vom nördlichen Benares hinaus in das Land.

      Wagen auf Wagen rollte aus den riesigen Lagerhäusern am Bahnhof und nahm den Weg zur neuentstandenen Märchenstadt, die fast über Nacht aus dem Nichts gewachsen war. Zwanzig Kilometer vom heiligen Ufer des Ganges, mitten in der Einsamkeit. Walter-Werndt-Stadt sagten die Europäer, Stadt des Zauberers nannten sie die Eingeborenen.

      Jeder Wagen, der das Gleis entlang rollte, war hochbeladen mit Material aller Art: Eisenträger, Aluminiumtafeln, Glasscheiben, Bretter, Betonplatten, verschnürte Pakete.

      Indische Lastträger hockten auf dem hinteren Trittbrett und pressten sich unter die überstehende Ladung, um eine Handbreit Schatten zu finden vor der glühenden Sonne.

      Oder sie schimpften mit den braungebrannten Burschen, die mit verwegenem Übermut auf den Wagen herumturnten und sich jeden Augenblick das Genick zu brechen drohten.

      Stadt des Zauberers... Je näher die dunkle Masse am Horizont rückte, desto lebhafter wurde das Treiben. Baracken, Lagerschuppen, Betonhäuser schoben sich an die Gleise heran und verteilten sich spinnennetzartig nach allen Seiten.

      Weiße, gelbe, braune Gestalten wimmelten zwischen den freien Räumen, zu Fuß und mit dem Pferd, mit Ochsen und Elefanten, hastig rennend oder keuchend unter allerlei Lasten.

      Tausend Geräusche zerschnitten die Luft, Hämmern und Kreischen, Rattern und Knarren, Bohren und Sägen, ein höllischer Lärmpegel. Dazwischen das Schreien der Arbeiter, die kurzen Rufe der Aufseher, Dampfsirenen und Pfeifensignale, Läutwerke und Motorknattern. Die ganze Szenerie glich einem bunten Jahrmarkt mit Hunderten von beschäftigen Menschen.

      Europäische Techniker empfingen die Züge und verteilten die Wagen nach flüchtigem Blick auf die Anschrift der Ladung auf Anschlussgleise. Wie das dunkle Zentrum einer Schießscheibe lag der Bahnhof inmitten der anderen Bauten, die das größte Laboratorium aller Zeiten enthielten.

      Riesige Hallen und langgestreckte Steingänge waren ebenso zu sehen, wie breite, runde und eckige Türme von seltsamen Formen. Dazwischen befanden sich dicke Betonwände, tief in die Erde versenkt, bergwerkartige Stollen und erdüberdachte Labors. Die Wachen vor ihren Eingängen zeigten, das ihre gefährliche Ladung schon innen verstaut war.

      Von einem der bremsenden Wagen löste sich die schlanke Gestalt eines einzelnen Mannes. Einer der Techniker kam ihm diensteifrig entgegen. »Ah - Mister Nagel - schon wieder zurück?«

      Der Ankömmling reichte ihm freundlich die Hand. »Direkt von München. Hier noch alles in Ordnung?« Er schob den Hut in den Nacken und streckte den sehnigen Körper. Mit aufmerksamen Augen überblickte der das Gelände und quittierte das geschäftige Treiben mit einem zufriedenen Lächeln.

      »Ihr habt tüchtig geschafft in der letzten Woche. Halle drei und vier sind schon fertig -«

      »Und eins und zwei schon ganz eingerichtet. Auch Ihr Sternwartengebäude. Wir kommen noch schneller voran, als gedacht.«

      »Wo ist Doktor Werndt jetzt?«

      Dem Techniker strahlte der Stolz aus den Augen. »Im Hauptbau fünf. Er richtet die beiden Turmräume ein. Der neue Ingenieur ist auch bei ihm.«

      Doktor Nagel hob erstaunt die Brauen. »Ein neuer Ingenieur? Seit wann...?«

      Der andere schien den Einwurf erwartet zu haben. »Es ist der Vertreter der internationalen Stiftungskommission. Ein Franzose oder Bulgare.«

      »So.« Das sonnengebräunte Gesicht des Ingenieurs verfinsterte sich. »Na, ich werde ja sehen.«

      Mit einem kurzen Gruß drehte er sich ab und ging geradenwegs auf den Turmbau zu, der die Mittelstadt abschloss.

      Beim Anblick der lärmenden Arbeit erhellte sich seine Miene allmählich. Mit impulsiver Lebhaftigkeit erwiderte er die Grüße der Aufseher und Ingenieure, an deren Herzlichkeit er seine Beliebtheit erkennen konnte.

      Einer der älteren Herren schloss sich ihm an. Sie stiegen die Treppe zum Hauptbau hinauf. »Hier hat sich einiges verändert in den acht Tagen, die Sie in Deutschland waren. Wir sind mächtig vorwärtsgekommen. Was sagen Sie zu unserem Hauptsaal?«

      Doktor Nagel blieb überrascht stehen, die Klinke der Türe noch halb in der Hand.

      »Alle Achtung!« entfuhr es ihm. »Es wirkt doch in WirkIichkeit noch etwas anders als auf dem Papierplan.«

      Der andere strahlte. »Diesen Saal macht uns auch niemand nach. Mein Ressort, der Apparatepalast. Sehen Sie sich nur einmal diese Torsionswaage an, die auf ein milliardestel Gramm reagiert. Diese ganze Wand hier enthält alle Vorrichtungen für die Bestimmung von Längen und Volumen, für Dichte-, Druck- und Temperaturmessungen. Die Instrumente liefern im Durchschnitt sechs Dezimalen ihrer Messeinheit - bitte!«

      »Und Doktor Werndt?« fragte Nagel. Seine Gedanken schienen ganz woanders zu sein, als bei diesen zahllosen Apparaten, die auf Stellagen und Tischen verstreut standen, lagen und hingen.

      Aber der Ingenieur ließ ihn nicht los. Mit liebevoller Sorgfalt fuhr seine Hand über eine funkelnde Linse. »Wir haben hier die besten Apparaturen vereinigt, die bisher auf dem Gebiet der Photographie, Photochemie, Kristallographie und Spektroskopie konstruiert wurden.«

      »Um Himmels willen!« Der Jüngere hielt sich mit gespielter Bestürzung die Ohren zu.

      »Aber den Vogel schießen doch meine optischen und elektrischen Messinstrumente ab, für Brechungsindex, Beugungserscheinungen,

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