Der Schatz der Kürassiere. Herbert Schoenenborn
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Die ärztliche Versorgung der Zivilbevölkerung verschlechterte sich von Tag zu Tag. Wer krank wurde, konnte kaum Hilfe erwarten, denn alle Ärzte hatte man zum Dienst in den Krankenhäusern zwangsverpflichtet. Die Hospitäler schickten die leichteren Krankheitsfälle und halbwegs genesenen Patienten nach Hause und nahmen, wenn überhaupt, nur noch Notfälle auf, denn sie waren mit der Pflege und der Versorgung der Verwundeten und Sterbenden der letzten Kämpfe bereits restlos ausgelastet.
Doch wieder zurück zum heutigen Tag:
Wie ein Lauffeuer hatte sich am Morgen die Nachricht verbreitet, dass die deutschen Truppen den Belagerungsring um die Stadt geschlossen hatten. Obwohl die Lage ausgesprochen prekär war, kam es weder zu Hamsterkäufen noch zur Panik in der Bevölkerung. Dies war einer gut funktionierenden Propaganda zu verdanken. Mit Aushängen in den Straßen und Sonderausgaben der örtlichen Zeitungen informierten die städtischen Behörden und das Militär mehrmals am Tag über die aktuelle Lage, wobei schlechte Nachrichten unter den Teppich gekehrt und die wenigen Lichtblicke in den Vordergrund gerückt wurden.
So war die Versorgung mit Lebensmitteln vorerst nicht gefährdet, denn nach den letzten Bestandsaufnahmen reichten die Lebensmittelvorräte für die Einwohner und die Besatzung der Festung für etwa drei Monate. Die Rheinarmee selbst besaß zwar nur Vorräte für ungefähr vierzig Tage, jedoch hatte sie die Möglichkeit, sich durch Requisitionen in der näheren Umgebung und schlachten ihrer Pferde noch eine längere Zeit über Wasser halten zu können.
Auch die militärische Situation schien nicht einmal so schlecht zu sein, denn den Verteidigern stand ausreichend Munition zur Verfügung, um den Feind längere Zeit auf Distanz zu halten.
Zudem hatten Kuriere gemeldet, dass Marschall Mac Mahon um Châlons Truppen zusammenzogen hatte, die sich bald zur Entlastung der Eingeschlossenen in Marsch setzen würden.
Diese Nachricht nährte in Metz das Gerücht, Marschall Bazaines Rheinarmee beabsichtige in den nächsten Tagen den Belagerungsring zu durchbrechen, um sich mit den Truppen Mac Mahons zu vereinigen und dann gemeinsam gegen den Feind vorzugehen. Das stärkte in der Bevölkerung das Vertrauen in ihre „Grande Armee“ und den Glauben, dass sich das Kriegsglück bald zu Gunsten Frankreichs wenden werde.
Dass es auch anders kommen könnte, daran glaubten nur wenige überzeugungsresistente Pessimisten. Die aber sollten leider Recht behalten.
Kapitel 1
Metz, Lothringen, 21. August 1870
Die Glocken der nahen Kathedrale hatten gerade ihr Mittagsläuten beendet, als vier Männer vor dem Haus No. 12 in der Rue des Jardins stehen blieben und die Hausglocke läuteten. Zwei von ihnen trugen die Uniform der französischen Garde, die beiden anderen Zivil.
Haus No. 12 war ein herrschaftliches Stadthaus vom Anfang des 19. Jahrhunderts, das eher in einen Villenvorort als in die Rue des Jardins gepasst hätte. Da es gut drei Meter zurückversetzt war, hatte man das Gefühl, dass sich seine gepflegte hellbeige Fassade nicht so recht in die graue Front der übrigen Häuser einfügen wollte. Das Gebäude war nicht nur erheblich breiter, sondern mit seinen drei Stockwerken auch eine Etage höher als die Nachbarhäuser. Eine vierstufige steinerne Treppe führte zu einer massiven breiten eichenen Eingangstür empor. Ein ausladendes Vordach, das von zwei klassizistischen Säulen gestützt wurde, überdachte Eingangstüre und Treppe und reichte fast bis zum Bürgersteig. Stabile schmiedeeiserne Ziergitter sicherten die Parterrefenster. Die rundbogige Hauseinfahrt konnte nicht mehr genutzt werden, denn sie war zur Straße hin mit einem, im Boden und in den Seitewänden fest verankerten, massiven Eisengitter dauerhaft verschlossen und glich entfernt einem mit einem Fallgitter verschlossenen Stadt- oder Burgtor. Am Ende der Einfahrt verwehrte eine graue Eisentüre den Blick in den Innenhof. Tor, Türe und Fenster waren mit dunkelgrauen, kunstvoll behauenen Steinelementen eingefasst und verliehen dem Haus ein vornehmes Aussehen.
Die Männer hatten sich seitlich der Eingangstüre gestellt, so dass sie durch den Türspion nicht gesehen werden konnten. Die List gelang, denn nach kurzer Zeit wurde ein schwerer Riegel auf die Seite geschoben und die Türe einen Spalt weit geöffnet. Darauf hatten die Männer spekuliert. Mit Wucht stießen die Soldaten die Haustüre weit auf und drängten den Livrierten, der nachsehen wollte, wer die Unverfrorenheit besaß die Mittagsruhe zu stören, ins Innere des Hauses. Die beiden Zivilisten folgten den Soldaten auf dem Fuße. Die Gardisten verriegelten nun von innen die Tür und postierten sich rechts und links vom Hauseingang. Das alles ging sehr schnell. Keiner der wenigen Passanten auf der Straße hatte etwas bemerkt. Nur von einem Fenster gegenüber wurde der Vorfall zufällig beobachtet. Als die vier Männer im Haus verschwunden waren, zog sich der Beobachter zurück. Er beschloss, nichts gesehen zu haben, denn in diesen unruhigen Zeiten kümmerte man sich besser nur um sich selbst, insbesondere dann, wenn Militär mit im Spiel war.
Es dauerte einige Zeit, bis sich der Überrumpelte von seinem Schrecken erholt hatte. Wut machte sich in ihm breit. Er näherte sich den beiden Männern in Zivil bis auf eine Armlänge, so dass die Uniformierten auf dem Sprung waren einzugreifen. Zum Glück hatte sich der Hausbewohner schnell wieder im Griff. Er trat einen Schritt zurück, so dass sich die Soldaten wieder entspannen konnten.
„Messieurs, was wollen Sie?“, fragte er kalt, wütend über sich selbst, weil er auf einen uralten Trick hereingefallen war und damit den ungebetenen Besuchern ihr Eindringen ins Haus so leicht gemacht hatte. Unbeeindruckt von der Gemütslage seines Gegenübers erwiderte der größere der beiden Zivilisten beschwichtigend:
„Entschuldigen Sie unser Eindringen, aber wir müssen dringend mit Monsieur Fréchencourt sprechen.“
„Monsieur Fréchencourt hat sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und möchte nicht gestört werden“, entgegnete der Angesprochene abweisend.
„Schon gut Philippe“, sagte der Mann, der vom Treppenabsatz der ersten Etage aus das Geschehen unbemerkt beobachtet hatte und nun gemächlich die Stufen herunterkam. Die unten stehenden konnten zunächst nur seine Silhouette erkennen, die sich gegen das einfallende Licht des oberen Flurfensters abhob.
„Monsieur Gerard Fréchencourt?“, fragte der kleinere der beiden Männer höflich.
„Non Monsieur, ich bin Richard Fréchencourt. Mein Vater Gerard ist vor zwei Wochen verstorben, Sie müssen daher mit mir Vorlieb nehmen. Was kann ich für Sie tun, Messieurs?“, fragte er vorsichtig. Erst als er in das gedämpfte Sonnenlicht der Eingangshalle trat, wurde den Besuchern klar, dass der Mann schon altersmäßig nicht Gerard Fréchencourt sein konnte, denn derjenige, der ihnen gegenüberstand, war erst Anfang dreißig. Er trug den blauen Rock der französischen Freikorps, der Franctireurs. Den Abzeichen nach stand er im Range eines Captaine. Richard Fréchencourt war mittelgroß und athletisch. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten und sein schmales Gesicht mit der geraden Nase und dem energischen Mund wurde von Backen- und Kinnbart umschlossen. Unter dichten Brauen musterten dunkle Augen abschätzend die Besucher. Was waren das für Männer, die ungebeten in sein Haus gestürmt waren und unbedingt seinen Vater sprechen wollten?
Bei einer flüchtigen Begegnung, so vermutete Fréchencourt, würde man die beiden später sicherlich nur vage beschreiben können. Vielleicht könnte man sich noch an den Größenunterschied und eventuell noch an ihr gepflegtes Äußeres erinnern. Die Kleidung der beiden ungebetenen Gäste entsprach dem Zeitgeschmack und war eher unauffällig, denn die Sakkos und eng geschnittenen Hosen in gedeckten