Malefizkrott. Christine Lehmann
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Stuttgart verstand übrigens von Performance auch nichts. Nicht einmal mehr Autostadt mochte sie sein. Alle Straßen, die Brontë gefallen hatten, weil raserisch und mehrspurig, waren ökolustfeindlich auf Tempo fünfzig zurückgestutzt und von Fußgängerampeln zerhäckselt.
Und in diesem Sommer herrschte eh Krieg. Nein, nicht Fußball. Es ging um den Hauptbahnhof mit seinem kreiselnden Mercedesstern und der Turmuhr aus den Fünfzigern, mit seinen Bossenwerkfassaden und den endlosen Seitenflügeln, an denen Passanten verhungerten und Ratten fett wurden.
Ich gehörte nicht zur Kulturelite der Stadt, aber ich sah es mit Wohlgefallen. Es schmeichelte mir. Denn beim Kampf um den Retrocharme des Hässlichen ging es im Grunde auch oder eigentlich um mich. Er war wie ich, dieser Hauptbahnhof: ungefällig, von altertümlicher Ästhetik, schroff, rau und verschlossen. Er war eine sperrige Demonstration gegen den bürgerlichen Schnörkelklassizismus anderer Metropolenbahnhöfe, zugleich jeglicher Modernisierung abhold, geistig tief im vorigen Jahrhundert verwurzelt und entschlossen, nichts dazuzulernen. Deshalb durften, wenn es nach mir ging, auch die Seitenflügel nicht abgerissen werden. Und wenn sich die Stuttgart-21-Gegner zu ihren Montagsdemonstrationen und Mahnwachen versammelten, dann taten sie es insgeheim für mich, für mein Narbengesicht, an das man sich gewöhnt hatte, und für meine Anstrengungen, nicht zu gefallen und mich dem zeitgemäßen CO2 -neutralen Glasbaudenken nicht zu unterwerfen.
Ich schickte Brontë durch die Tunnel nach Vaihingen hinauf und überließ den Rest des Wegs dem Navi. Er führte uns über die Bahnlinie ins Österfeldgewann, wo die Straßen Othello, Don Carlos oder Hamlet hießen. Brontë schnurrte zufrieden. In der Sackgasse zum Wald standen immerhin ein Porsche Cayenne und ein Z3. Wahrscheinlich würde sie den jungen Boliden Märchen aus Zeiten erzählen, als sich noch niemand um Auspuffemissionen kümmerte.
Das Haus mit dem Klingelschild Schrader war Teil eines dreihäusigen Neubaus mit großen Fenstern.
»Nerz«, sagte ich in die Gegensprechanlage.
»Pappo«, hörte ich aus dem Lautsprecher ein Mädchen rufen. »Da ist ein Nerz.«
Eine Antwort hörte ich nicht. Aber es knackte der Türöffner.
»Pünktlich sind Sie ja!«, empfing mich der filigrane Akademiker mit wachen grauen Augen und der Lehrerpersönlichkeitstonlage. »Angenehm, Herr Nerz!«
Mir gar nicht. Die Wohnung roch nach musischer Erziehung und Globuli.
»Schön, dass es geklappt hat«, konversierte Schrader weiter. »Möchten Sie ablegen?«
»Danke.« Ich legte den Trenchcoat über meinen Arm.
Lolas Blick war nadelscharf, er trennte alle Nähte meines spießigen Anzugs auf, freilich ohne sich schlüssig zu werden.
»Das ist meine Tochter Lola«, sagte Michel Schrader.
Ihr Händedruck war gewollt lasch. Ich schaute ihr ungeniert auf die Titten. Sie zog die Jacke zusammen. Unser geheimes Spiel begann.
»Darf ich bitten«, sagte der Vater. Im Wohnzimmer standen ein Klavier, Möbel, Unterhaltungstechnik und Leuchtmittel, die den unbedingten Willen zur Gestaltung verrieten. In die weißen Ledersofas würde niemand zu furzen wagen. Die Glasfront erlaubte direkten Einblick auch unterhalb der Gürtellinie. Nach dem, was ich über Feng-Shui wusste, ging es kaum unheimeliger.
Auf dem Rauchglascouchtisch lagen die Süddeutsche, die Welt, der Stuttgarter Anzeiger und das Buch mit dem callgirlroten Cover.
»Ja, das ist es, das Corpus Delicti.« Michel Schrader nahm es hoch, wechselte es von einer Hand in die andere, bevor er es mir überreichte.
Lola lächelte Grübchen in ihre Backen. »Nur so eine Spielerei von mir.«
Ich hielt mir das Buch verkehrt herum unter die Augen und ließ die Blätter unterm Daumen durchratschen.
Michel Schrader runzelte die Stirn. Lola lächelte sich aufs Kinn. Der Unterschied zwischen ihr und mir war nur, dass meine Spielereien nicht gedruckt und unter die Leute gebracht wurden.
Ich kann allerdings seit der Grundschule Texte lesen, die auf dem Kopf stehen, denn nur so hatte ich von meiner ersten Bank aus entziffern können, was die Lehrerin las, wenn sie uns eine Klassenarbeit schreiben ließ. Deshalb hatte mich schon in früher Jugend die Erkenntnis angesprungen: »Die Frau leidet als soziales und als Geschlechtswesen. Es ist schwer zu sagen, in welcher von beiden Beziehungen sie am meisten leidet. Daher ist der Wunsch vieler Frauen begreiflich, dass sie möchten als Mann und nicht als Weib geboren worden sein.«
In den Zeiten meiner Tätigkeit für die Frauenzeitschrift Amazone pflegte ich zu behaupten, dieser Satz sei von Simone de Beauvoir und habe mir schon in der Grundschule die Erleuchtung verschafft, dass es sich für mich nicht lohnte, das Ego-Projekt Frau weiterzuverfolgen. Keine hatte mir jemals widersprochen. Da hatte erst Richard kommen und August Bebels Die Frau und der Sozialismus ins Spiel bringen müssen. Gerne hätte ich diese Lehrerin heute gefragt, was sie damals bewogen hatte, Bebel zu lesen. Ich vermute, sie ist nicht im Schuldienst geblieben. Vielleicht ist sie damals verzweifelt an Ungerechtigkeit und Vietnamgemetzel und wurde – Anfang der siebziger Jahre – aus dem Dorf in die antiimperialistische Stadtguerilla gespült, kaufte einen Wecker, der für einen Kaufhausanschlag benutzt wurde, gewährte einer gesuchten Rote-Armee-Fraktionistin Unterschlupf und ging später in der Lesben- und Emanzenbewegung auf. Damals kannte man ja das iPad noch nicht und hielt deshalb die Weigerung, BH zu tragen, für eine Revolution.
Und jetzt sprang mir aus dem falsch herum gehaltenen Buch der Satz in die Augen: »Hakim lässt Oliva nackt tanzen, während eine Katze sie kratzt und beißt. Immer weiter und weiter, bis er sich entladen hat.«
Ich schaute hoch. Michel Schrader blickte weg. Lola kratzte sich mit kontaktlosem Blick die Hand unter dem langen Ärmel. Für einen Hausaufgabennachmittag war sie arg aufwändig geschminkt. Kajal um die Augen, Lidstrich, Mascara, ein kräftiges Violett auf den Lidern. Emo nannte man diese Farbrichtung. Das kam von Emotional. Emo sein lohnte sich eigentlich eher für Jungs, die sich schminkten und riesige Mützen auf toupierten Haaren tragen wollten, ohne als weibisch zu gelten, was die Lans nicht hinderte, sie zu mobben. Emo-Weibchen weinten nur ständig und ritzten sich die Unterarme.
»Es verkauft sich ganz gut«, behauptete Michel. »Offenbar hat Lola den Nerv der Zeit getroffen.«
Ihr Blick kam hoch und prallte gegen mein Gesicht. Ein kleines Lächeln befeuchtete ihre Lippen.
Na, du Malefizkrott, wer hat dir denn gesteckt, dass Schweinkram mit Gewalt immer den Nerv trifft?
Mit einem Ruck zog sie den Haarvorhang vor ihr Gesicht.
Empfindlich! Sensibel? Ich hätte gerne diese Stimme wieder gehört, mit der sie beim Eintritt in Ursprungs Laden »Guten Abend« gesagt hatte. Aber im Moment spielte sie was anderes. Ich kam nur nicht drauf, was.
»Bitte nehmen Sie doch Platz!«, sagte der Vater.
Ich steckte das Buch in die Innentasche meines Jacketts, legte den Trenchcoat über die Sofalehne und schlug die Beine übereinander. Dabei knallte ich mit der Schuhspitze unter den Couchtisch. Die Platte hob sich. Die Zeitungen rutschten.
»Verzeihung.« Ich rückte die Platte wieder gerade.
»Nichts