Koshiki Kata. Roland Habersetzer
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Es liegt auf der Hand, daß der Versuch, die tiefere Bedeutung einer Kata zu erfahren, unmöglich zu vereinbaren ist mit der Ausbildung einer Masse Praktizierender. Dergleichen kann ausschließlich durch die traditionelle Übertragungskette vom Meister auf den Schüler vermittelt werden, in einer Atmosphäre der Ruhe und des Vertrauens, ohne Hast und ohne äußere Zwänge, wie z. B. Geldsorgen oder Geltungsbedürfnis.
Die klassische Kata ist eine technische Konstruktion, die auf hervorragender Kenntnis des menschlichen Körpers beruht. Diese Kenntnis kann auf zwei unterschiedliche, einander entgegengesetzte Weisen verwendet werden – womit wieder der Dualismus ins Spiel kommt. Zum einen, wie wir gesehen haben, geht es darum, die innere Energie effektiv zu mobilisieren und sie auf wirkungsvollste Weise in einem Kampf „auf Leben und Tod“ einzusetzen. Ein wesentlich weniger bekannter Aspekt der klassischen Kata sind Bewegungen, die der Wiedererlangung von innerer Energie dienen und die die Störungen, die im Verlauf eines Kampfes aufgetreten sein können, neutralisieren sollen. Während eines Kampfes ist es praktisch unvermeidbar, daß mehr oder weniger heftige Schläge und Stöße auf Vitalpunkte, die mehr oder weniger gut abgefedert werden können, empfangen werden. Das kann starke körperliche Beschwerden hervorrufen, besonders dann, wenn es wiederholt geschieht. Wenn zwei Karateka miteinander kämpfen, erfolgen beispielsweise aufgrund der Blocktechniken selbst dann, wenn die Schläge gegen den Körper abgewehrt werden, systematisch Schläge und Stöße gegen Unterarme und Schienbeine. Die Folgen sind nicht immer sofort nachweisbar, zumal vor allem junge, vitale Kämpfer für gewöhnlich Schmerzen nicht allzu große Aufmerksamkeit schenken, obgleich Schmerzen stets ein Warnsignal sind, das uns der Körper gibt. Manchmal, vor allem, wenn es sich um wiederholte Einwirkungen handelt, können jedoch chronische Körperbeschwerden ungeahnten Ausmaßes die Folge sein, wie z. B. Schlafstörungen, Atem- oder Kreislaufbeschwerden, Gewebezerstörung oder innere Verletzungen.
Die Störungen können auch psychischer Natur sein. Ein Mensch mit schwacher Persönlichkeit kann durch die immer wieder erfolgende Konfrontation mit der Gewalt in den Techniken, die für den Kampf erforderlich sind, verwirrt werden. Das kann gefährliches Verhalten, selbst im Alltagsleben, zur Folge haben. Sein Körper und sein Geist sind aus dem Gleichgewicht, und so wird er nie Ruhe finden. Die klassische Kata stellt hierfür tatsächlich eine Therapie dar. Oft sind in ihr entsprechende verschlüsselte Bewegungen oder Körperpositionen enthalten. Dies kann auf so subtile Weise der Fall sein, daß man es gar nicht bemerkt. Es handelt sich gewissermaßen um Andeutungen von Bewegungen, deren Zweckbestimmung man nicht erfassen kann, ohne das technische Wissen, über das man verfügt, in Frage zu stellen. Sie existieren deshalb, weil ihnen die Fähigkeit zugesprochen wurde, diesem oder jenem Energiezentrum Energie zuzuführen oder Energie von ihm abzuleiten. Ersteres kann vonnöten sein, wenn ein Energiezentrum entleert ist, letzteres, wenn es mit schädlicher Energie gefüllt ist. Diese Wirkung soll sich genau dann entfalten, wenn die Aufeinanderfolge der Techniken genau so ausgeführt wird, wie dies vorgesehen ist. Besonders interessant wird diese Art von Kompensation ab einem bestimmten Alter oder einfach für den Karateka, der ein bestimmtes Maß an Reife erreicht hat und auf sehr natürliche Weise das Bedürfnis verspürt, sein Karatedô „auf andere Weise“ auszuführen.
Man begreift nun, daß viele Karateka irgendwann aufhören, ihre Kampfkunst zu praktizieren, da sie keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten sehen. Und dabei handelt es sich oft um noch junge Karateka voller Lebenskraft. In Japan und auf Okinawa stellte das Alter hingegen nie ein Problem dar. Man lernte dort, daß man in jedem Alter effizient bleiben kann, aber jeweils auf andere Art und Weise. Doch um das zu wissen, muß man etwas über die energetische Rolle der traditionellen Kata erfahren haben. Man muß mit ihren subtilen Hinweisen für eine intelligente und den Umständen des jeweiligen Alters angepaßte Haushaltung einer Lebensenergie vertraut sein, die nur Narren freiwillig vergeuden würden. Doch auch hierfür ist der Zugangscode nicht immer offensichtlich, sofern überhaupt noch vorhanden. Viele dieser hinweisenden Bewegungen und Körperhaltungen sind verlorengegangen, als die Übertragungskette vom Meister zum „inneren“ Schüler nicht mehr respektiert wurde. Andere Schüler, die der Meister wissentlich über die Zugangsschlüssel in Unkenntnis gelassen hat, waren davon überzeugt, daß diese Bewegungen und Körperhaltungen schlichtweg unnütz waren. Und so haben sie sie einfach weggelassen.
Betrachtet man den Ablauf einiger heute existierender Kata genauer, fällt auf, daß mitunter eine bestimmte Passage, die sehr kurz sein kann, in keinem Zusammenhang steht mit dem, was vorher war und dem, was folgt. Ein anderer Abschnitt der Kata kann hingegen zu langsam erscheinen, als daß er für die reale Anwendung in einem Kampf geeignet sein könnte. Eine weitere Bewegung kann übertrieben ausgefeilt wirken und auf diese Weise vollständig ungeeignet für die Anwendung. Dies sind Hinweise auf Schlüssel, die noch heute existieren. Es liegt auf der Hand, daß man, wenn man Karate als Sport betreibt, sich solcher Dinge schnell entledigen wird. In der Folge werden die Techniken uniformisiert, damit sie „für jedermann geeignet“ sind, Rhythmen werden verändert. Es werden sogar Teile der Bewegungsfolgen durch neue ersetzt, die als Bindeglied für die beibehaltenen Techniken dienen sollen, einzig zu dem Zweck, daß sie sich besser für den Kampf eignen. Diese Verarmung setzt sich fort in der Massenpraxis.
Die Entschlüsselungsarbeit hinsichtlich der energetischen Aspekte der Kata, sofern diese noch möglich ist, ist äußerst langwierig und voller Fallstricke. Es gibt unzählige falsche Fährten, aber auch zahllose glückliche Funde, die ins Konzept passen und diese oder jene These stützen. Alles in allem geht es darum, durch die Kata den Geist und damit die Botschaft, die ihr Schöpfer in sie eingebracht hat, wiederzuentdecken. Es sollte am Ende möglich sein, genau dies weiterzuvermitteln, damit die traditionelle Kata auch in Zukunft ihre bildende, erzieherische Funktion ausüben kann, deretwegen sie einst geschaffen wurde.
Die klassische Kata als „unendlicher Schatz“
Es ist wichtig zu begreifen, daß eine Kata, die nicht „korrekt“ im oben beschriebenen Sinne ausgeführt wird, gefährlich werden kann für denjenigen, der mit ihr umgeht. Daran ändert nichts, daß die unwissentlich falsche Ausführung dem Zeitgeist geschuldet ist, was nicht in der Verantwortung des Praktizierenden liegt. Die Kata ist gewissermaßen eine Waffe, und es ist immer gefährlich, eine Waffe falsch zu gebrauchen. Es ist nicht so sehr von Bedeutung, wenn eine moderne Kata hinsichtlich ihrer externen Bestimmung unwirksam geworden sein sollte. Um sie wieder für den realen Kampf geeignet zu machen, müßte sie dann vielleicht umstrukturiert werden, zumindest teilweise. Viel wichtiger ist die Unkenntnis der inneren Kräfte, die entfesselt werden. Durch diese kann der „esoterische“ Aspekt der Kata für Körper und Geist des Ausführenden zur Gefahr werden. Ihrem Wesen nach ist die traditionelle Kata ein Mittel, das die körperliche und geistige Unversehrtheit dessen, der sie zu nutzen weiß, bewahrt. Sie ist eine Reise mitten