Koshiki Kata. Roland Habersetzer
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Wo aber findet man heute noch das Dô des Karate, den Weg? Er ist nach wie vor im nahezu anonymen Wirken einiger alter Meister zu entdecken, deren Namen nicht einmal in den neuesten bekannten Stammbäumen der Schulen erscheinen, wonach sie im übrigen auch gar nicht trachten. Diese Meister überlassen es anderen, im blendenden Scheinwerferlicht zu stehen und sich der Bewunderung eines unwissenden Publikums hinzugeben. Sie erteilen kaum noch Unterricht, oder sie vermitteln ihr Wissen so wenigen Schülern, daß die Gefahr besteht, daß diese Männer, authentische lebende Schätze einer praktisch verschwundenen Kunst, aussterben und das echte „Leben“ der Koshiki Kata mit ins Grab nehmen. Aber auch andere hervorragende Menschen, seien sie bekannt oder unbekannt in der Welt des Karate, haben endlich die Gefahr begriffen. Sie versuchen, hier und da den fatalen Prozeß aufzuhalten, indem sie anderen die Situation bewußtmachen und sie zum Nachdenken anregen. Aber was kann eine Handvoll kompetenter Menschen guten Willens schon ausrichten, wo die Mehrheit der Karateka oft nur vorübergehend einen Sport ausübt und nicht mehr eine Lebenskunst zu verwirklichen sucht? Kaum jemand weiß noch von dem Dualismus des Inneren und des Äußeren bei dem, was er eigentlich tut, ein Dualismus, der sich noch in der Bezeichnung wiederspiegelt, die Funakoshi Gichin um 1930 wählte, um seine Kunst zu benennen, die er von Okinawa nach Japan gebracht hatte.23
Zunächst hieß diese Kunst Tôde, wobei to ein chinesisches Begriffszeichen ist, das auf okinawanisch tô ausgesprochen wird und die Dynastie der Tang bezeichnet. In der weiteren sprachlichen Entwicklung weitete sich die Bedeutung des tô auf alles, was vom benachbarten chinesischen Festland stammte, aus. De bedeutet eine Technik. Tôde kann demzufolge als „Technik der Tang“ oder „Kontinentaltechnik“ interpretiert werden. Aus dem okinawanischen Begriff Tôde wurde nun der japanische Begriff Kara te. Te heißt auf japanisch „Hand“, aber auch „Kunst“. Kara bedeutet „leer“ im physischen Sinne, aber das Ideogramm für kara kann auch als ku gelesen werden, was „leer“ im metaphysischen Sinne bedeutet, womit die Brücke zu Mushin, der Leere des Geistes geschlagen wird.24 Wenn man kara te als „leere Hand“ interpretieren kann, so kann man es auch als „Kunst des Zustands der Leere des Geistes“ interpretieren. Dies hebt alles auf ein gänzlich neues Niveau, und gleiches gilt auch für die Namen der Kata. Auch diese lassen sich auf verschiedenen Ebenen des Verständnisses unterschiedlich interpretieren.
Alle Probleme, die sich aus solch einer Komplexität der Zusammenhänge ergeben, haben die Verbände des Sportkarate auf ihre Weise gelöst, indem sie eine Vereinheitlichung jener Kata angeordnet haben, die auf den Meisterschaften oder für die Verleihung von Graden vorgeführt werden. Die Bewegung ist damit zum Selbstzweck geworden, was zählt, sind die Kraft, der Effekt und die Ästhetik. Dem Publikum gefällt das natürlich, und das Publikum ist wegen der Dynamik der Entwicklung der Mitgliederzahlen in den Vereinen zu einem wichtigen Faktor geworden. Der Zweck der Kata ist kein erzieherischer mehr, sondern die Kata soll gefallen, die Mühsal ist durch die Mühelosigkeit abgelöst worden. Selbst die Kata aus Okinawa, die den Ruf haben, die getreuesten Überlieferungen der Koshiki Kata zu sein, sind nicht unbeeinflußt geblieben von dem internationalen Erfolg, der ihren japanischen Abkömmlingen zuteil wurde. Dadurch, daß sie der Kritik ignoranter Beobachter ausgesetzt waren, verloren die „unendlichen Schätze“ von ihrem Glanz.
Die klassische Kata als Arbeit mit der inneren Energie
Das Wesen der klassischen Kata liegt jenseits der einfachen Techniken. Dennoch: Ohne diese Techniken zu meistern, ist der Zugang zum „inneren“ Bereich nicht möglich. Auf dieser Ebene besteht der Zweck der Kata darin, das „innere Wesen“ des Praktizierenden zu befreien. Aber diese Technik des Erweckens kann ihre Wirkung nur entfalten, wenn es gelingt, die inneren Triebe, die des Körpers wie die des Geistes, zu kontrollieren. Es ist wohlbekannt, daß zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht; alles, was sich auf die Psyche des Menschen auswirkt, findet seinen Widerhall in der Funktion der Organe und umgekehrt. Die Koshiki Kata bilden sowohl das Äußere als auch das Innere und sie bewirken zudem ein wechselseitiges Bilden beider. Sie stellen eine Methode dar, den Körper wie auch den Geist energetisch wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Koshiki Kata tatsächlich nichts anderes als eine Form des Qigong25. Dessen Endzweck besteht darin, das Individuum von allen inneren Hemmnissen zu befreien, die seine Energie, seine Lebenskraft, daran hindern, auf natürliche Weise zu zirkulieren. Dies soll ihm gestatten, sich auf geistiger Ebene weiterentwickeln zu können. Hier kommt die im vorigen Abschnitt erläuterte mögliche Lesart ku („leer“ im Sinne von „leerem Geist“) des Ideogramms, das für gewöhnlich als kara in der Kombination kara te interpretiert wird, ins Spiel. Und damit nähern wir uns, zumindest intellektuell, dem Verständnis jener anderen Dimension der Koshiki Kata.
In einem meiner Bücher26 habe ich ausführlich die Beziehungen zwischen der inneren Energie und den Kampfkünsten erörtert und die in früheren Zeiten angewendeten Trainingsmethoden vorgestellt, die über einen komplexen Zyklus dazu führten, die innere Energie, das Qi, in physische oder geistige Kraftwellen umzuwandeln. Ich möchte an dieser Stelle nur daran erinnern, daß diese Energieform im Körper zirkuliert, vor allem entlang der als Meridiane bezeichneten Linien. Hierbei fließt sie auch durch die sogenannten Vitalpunkte27. Die Spezialisten für Akupunktur unterscheiden 700 derartige Punkte; für die Kampfkünste spielen 108 eine Rolle, davon sind 36 potentiell tödlich. Da diese Punkte empfindlicher als andere Stellen an der Körperoberfläche des Menschen sind, kann ein auf sie ausgeübter Schlag oder heftiger Druck den Energiefluß stören, ihn stimulieren oder unterbrechen, was nicht ohne Wirkung auf die inneren Organe bleibt. Die alte chinesische Technik des Dianxue, aus der sich die japanische Atemi-Technik ableitet, besteht aus mit der Hand oder dem bloßen Fuß ausgeführten Schlägen oder Stößen auf die Vitalpunkte. Für diese Schläge oder Stöße bestehen im Dianxue bzw. Atemi Abstufungen hinsichtlich der Wirkung auf den Körper. Sie können einfachen Schmerz verursachen, Ohnmacht auslösen oder sogar den Tod zur Folge haben. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Techniken um eine komplexe Wissenschaft, die die natürlichen tageszeitlichen wie jahreszeitlichen Schwankungen der Energieströme berücksichtigt. Und die traditionellen Kata sind ein Ergebnis dieser Wissenschaft.
Zunächst berücksichtigen die Kampfbewegungen die Veränderungen der Energieflüsse im menschlichen Körper, um eine maximale Effektivität bei der Anwendung der Techniken zu erzielen. Daraus leitet sich beispielsweise das Embusen28, d. h., das Richtungsschema einer Kata, die Ausrichtungen und die Lage des Anfangs- und des Endpunktes ab. Das gilt auch für den Rhythmus, in der die Techniken einer Kata ausgeführt werden. Dieser Rhythmus ist niemals gleichförmig. Die Verlangsamungen, Beschleunigungen oder Rhythmusbrüche in verschiedenen Abschnitten sind präzise Anweisungen, einen bestimmten Rhythmus zu übernehmen. Damit gehen wiederum Veränderungen der Atmung einher.29 Diese Veränderungen der Intensität beim Erleben der Kata sind Teil der Entschlüsselung des Sinnes, der durch die Techniken vermittelt wird. Das ist der Grund, weshalb vor allem ein Soto deshi größte Mühe darauf verwendete, die äußere Form der Kata, die ihn sein Meister gelehrt hat, genauestens zu imitieren, ohne die geringste Veränderung. Dies war die einzige Möglichkeit für ihn, eines Tages das zu entdecken, was man den „Geist der Techniken“ nennen könnte. Das bedeutete schließlich nichts anderes, als sich mit vollkommenem Vertrauen der „Gußform“ der Bewegungen anheimzugeben, durch die einst der Schöpfer der Kata bestimmte Abfolgen und Zusammenhänge kodiert hatte. Dies wiederum würde eines Tages dazu führen, daß der Praktizierende eine