Koshiki Kata. Roland Habersetzer
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Indem namhafte Experten ihr Wissen bloß häppchenweise vermittelten, banden sie ihre Anhängerschaft immer fester an sich. Sie prägten den Kata, die sie lehrten, ihre persönliche Note und originelle Variationen auf und modifizierten sie somit. In der Folge kam es dann zu Spaltungen, die selbst Karateka ein und derselben Stilrichtung voneinander trennten. Die „Alten“ werden sich noch lange an die „Kata-Schlacht“ erinnern. Dieser Kampf wurde auf raffinierte Weise mittels eifersüchtig gehüteter Formen, Exklusivitäten, sorgfältig aufrechterhaltener Unklarheiten und künstlicher Erschwernisse hinsichtlich der Bunkai ausgetragen. Mitunter waren die Unterschiede aber auch schlichter Unwissenheit der Experten geschuldet. Solches Nichtwissen verlor allerdings seine Unschuld in dem Augenblick, wo es als angebliches Geheimwissen getarnt wurde. Der Streit der Spezialisten wurde bis heute nicht gänzlich beigelegt. Anhänger und Gegner einer bestimmten Variante verfügen über gleichermaßen gute Argumente, was letzten Endes nur eines beweist: Was immer man über eine Kata sagt, wie immer man sie interpretiert, ab einem bestimmten Niveau des Verständnisses bleibt sie stets sie selbst. Dies setzt natürlich voraus, daß gewisse Grundzüge gewahrt bleiben. Hinter Dogmatismus verbirgt sich oftmals nichts weiter als eine fragmentarische Kenntnis der Dinge. Der durchschnittliche Karateka verlor in diesem Streit allzuoft einfach jede Orientierung, und dies gilt nach wie vor.
Dennoch haben sich die Zeiten geändert. Viele Karateka hohen Niveaus aus Europa und Amerika sind mittlerweile nach Japan, an die Quelle ihrer Kunst, gereist und haben von dort vollkommen klare und gut beherrschte Ausführungsformen der Kata mitgebracht. Auch sind seit damals zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, die jene Kata allgemein zugänglich werden ließen, die allzu lange einer Handvoll sich für eine Elite haltender Glückspilze im Umfeld einiger Wissensträger vorbehalten waren. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, eine Befreiung aus der Abhängigkeit. Die Demokratisierung der Kata, aller Kata einer Stilrichtung, bedeutete schließlich, daß ein freier Zugang zur authentischen Kultur des Karatedô möglich wurde. Niemand mußte sich mehr mit frustrierenden Bruchstücken, mit deformierten Häppchen abspeisen lassen. Die ungerechtfertigten und unbegreiflichen Hemmnisse waren beseitigt. Die großartige Entwicklung des Karate in den letzten Jahren hat einige Riegel aufspringen lassen und einige vorgebliche Dogmen revidiert.
Man kann nun einwenden, daß unter diesen Bedingungen die Gefahr, sich von der Tradition zu entfernen, nur noch größer geworden ist. Besagt doch deren Weisheit, daß nur durch langsames Fortschreiten echtes Wissen entsteht. Damit der Schüler das Wissen korrekt aufnehmen kann, muß es ihm der Meister zum rechten Zeitpunkt vorsichtig und mit Fingerspitzengefühl offenbaren. Dieser Einwand ist voll und ganz berechtigt. Aber einerseits hat sich heute das vertrauliche Lehren im Rahmen einer kleinen Gruppe überlebt oder ist zumindest zur Ausnahme geworden, und andererseits, ob man dies wahrhaben will oder nicht, haben der Einfluß der Massenmedien und der modernen Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten einige Regeln des Spiels außer Kraft gesetzt.
Der moderne Karateka kann unmöglich außerhalb seiner Zeit leben, wie es ihm vielleicht vor hundert Jahren noch möglich gewesen wäre. Es ist fruchtlos, auf der Grundlage veralteter Ansichten argumentieren zu wollen. Will der Karateka von heute auf der Höhe seiner Zeit sein, muß er so früh wie möglich die Karten des Spiels kennenlernen, das er beherrschen lernen will, auch wenn er noch nicht weiß, wie sie richtig einzusetzen sind. Warum sollte man denjenigen, die die ersten Stufen im Karate bewältigt haben, nicht die Reife zutrauen, selbst zum richtigen Zeitpunkt das Passende auszuwählen? Dies mag eine Utopie sein. Aber dennoch: Die Zeit der künstlichen Beschränkungen auf dem Gebiet der Kampfkünste ist vorüber. Das Budô unserer Epoche ist doch auch – und möglicherweise vor allem – eine Form, individuelle Freiheit zu erlangen, indem man frei und vollkommen über sich selbst – den Körper und den Geist – zu verfügen lernt. Und Freiheit gibt es nur, wenn man zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen kann. Was – hoffentlich – bleibt, sind freiwillige Beschränkungen, die es ermöglichen, ein wirklich tiefgründiges Verständnis zu erlangen. Jeder muß selbst abschätzen, was sich hinter der alten Weisheit, „sich langsam zu beeilen“, verbirgt. Jeder muß lernen, sein eigenes Richtmaß zu finden, seine Etappen abzustecken, seinen Rhythmus zu finden und Hindernisse zu akzeptieren. Dabei sind Beharrlichkeit wie auch Bescheidenheit gefragt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann es tatsächlich durchaus sinnvoll sein, sich auf die Intelligenz des Schülers bei dessen Auswahl zu verlassen, und dies zu einem früheren Zeitpunkt, als es einst üblich war.
Die neue Begeisterung für die Kata ist eine großartige Sache, an deren Wiederkehr ich immer geglaubt habe, trotz aller Versuchungen, die ein Karate, das auf den Wettkampf oder auf seine spektakulären Aspekte reduziert wurde, darstellte. Ich will jedoch an dieser Stelle nachdrücklich darauf hinweisen, daß ein Buch lediglich die äußere Form vermitteln kann. Kein Wort, kein Bild vermag den wahren Reichtum einer Kata darzustellen. Dieser kann nur durch die Praxis entdeckt und erlebt werden. Eine Kata zwischen die Seiten eines Buches, ja, selbst in ein Video zu zwängen, ist kaum möglich. So etwas ist bereits bei einer isolierten Einzeltechnik nicht einfach. Die Beschreibung der Kata ist nur eine Art „Umkleidung“. Der tatsächliche Inhalt ist eine andere Angelegenheit. Dennoch, eine Umkleidung, die nicht allzu schwer zu „öffnen“ ist, ist bereits ein ermutigender Anfang.
Dieses Buch ist als echtes Praxis-Handbuch konzipiert, das den Praktiker bis an die Grenze dessen zu führen vermag, was überhaupt durch Beschreibungen vermittelbar ist. Ich hoffe, daß jene, die es nutzen werden, genügend Erfahrung im Karate angesammelt haben, und daß sie so vernünftig sind zu wissen, daß jeder übermäßige Heißhunger abträglich für das Verinnerlichen der Formen ist. Daß die Kata für die Entwicklung des Selbst geschaffen wurden und nicht dafür, Wertschätzung in den Augen anderer zu gewinnen, gilt für die Koshiki Kata in besonderem Maße.
Viele von Ihnen werden all dies bereits intuitiv gewußt haben. Lassen Sie sich nicht von den Erscheinungsformen und Versuchungen eines modernen Karate, das mehr und mehr zum Spektakel verkommt, irritieren. Vertrauen Sie darauf, daß nur die Kata, die auf hohem Niveau und in vollkommener Selbstlosigkeit praktiziert wird, Sie begreifen lassen wird, was die „Kunst der leeren Hand“ tatsächlich bedeutet. Sie werden schließlich unterscheiden lernen, was wirklich zu dieser Kunst gehört und was nicht, und Sie werden erkennen, was unbedingt bewahrt bleiben muß, wenn alles andere vergessen sein wird.
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Die Koshiki Kata des Karate: Grundlage und Gestalt
Die klassische Kata und die traditionelle Kata: zwei Ebenen der Erforschung und des Verständnisses
Ich schrieb in einem meiner Bücher8, daß die Kata sowohl im Karate als auch in sämtlichen fernöstlichen Kampfkünsten das ist, „von dem alles ausgeht und zu dem alles eines Tages zurückkehrt“. Die Kata ist das erste, womit der Anfänger im Karate beginnt, und sie ist die letzte Form der Praxis, die der Karateka im Alter ausübt. Natürlich ist dies nur eine oberflächliche Beschreibung. Es ist richtiger zu sagen, daß der Anfänger damit beginnt, eine Kata zu üben, weil dies eine Aufgabe ist, die in jedem Dôjô, das etwas auf sich hält, gestellt wird. Der Anfänger wird noch nicht versuchen, herauszufinden, was genau eine Kata eigentlich ist. Er lernt die Kata, weil er keine andere Wahl hat, und natürlich auch, weil er jene Kata „beherrschen“ lernen möchte, die er benötigt, um höhere Graduierungen zu erhalten. Der Graduierte hingegen hat die Wahl. Er praktiziert die Kata aus freien Stücken, weil er sie begriffen hat. Der