Kālī Kaula. Jan Fries
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Beide Bäume sind real, aber jeder ist nur in seiner eigenen Welt real. Ein Monster, das sich unter Deinem Bett versteckt, ist nicht real oder messbar mit den äußeren Sinnen (Wachbewusstsein), es ist Teil der Traumwelt. Es ist nicht real in der materiellen Welt, aber es ist sicher real in der Imagination. Versteckte Monster haben schon viele Kinder mitten in der Nacht verängstigt, und jede Idee, die das kann, ist ziemlich real. Das selbe gilt für die Trancen, in die Menschen geraten, wenn sie verliebt sind, Angst haben, paranoid, gierig, verärgert, ambitioniert, traurig, inspiriert usw. sind. Du kannst Liebe nicht in der Wachwelt messen, aber sie ist sicherlich stark genug, um Menschen zu beeinflussen. Du kannst Furcht nicht messen, und doch ist Furcht so stark, dass sie Kriege, gesellschaftliche Verpflichtungen, Hierarchien, Traditionen und geregelte Arbeitszeiten verursacht. Jeder der Zustände enthält eine Menge Realität in sich. Die Realität des Wachbewusstseins ist abwesend, wenn Du schläfst und träumst, sie ist bedeutungslos, wenn Dein Geist Tagträume hat und wenn Du starke innere Gefühle wie Sehnsucht, Liebeskummer oder Überlebensängste erlebst. Die Schlaftraumerfahrung ist äußerst real, wenn Du im Traumland bist; sie verblasst zur Erinnerung, wenn Du am Morgen aufwachst. In Magie, Ritual und Religion neigen die Welten zur Überschneidung. Ein materielles Objekt kann eine starke imaginäre Realität haben, ein Traum kann in die Welt des wachen Erlebens projiziert werden. Wenn sich die Welten überschneiden, erleben wir Transformation. Es ist nur von zwischendrin und außerhalb, d.h. Turīya, möglich, dass die anderen Zustände willentlich veränderbar sind. Wir brauchen manchmal einfach Leerlauf, um von einem in den anderen Gang zu kommen.
Schädel und Leichen
Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat ein Haufen von schlecht informierten Möchtegern-Gurus die Idee populär gemacht, dass Tantra einfach spirituelle Erotik sei. Zahllose New-Age-Propheten verkaufen kostspielige ‘Tantra Workshops’, in denen die Leute ein bisschen von der nötigsten sexuellen Grundausbildung bekommen. Was auf diesem Markt als ‘Tantra’ verkauft wird, hat mit dem Original sehr wenig zu tun. Schaumbäder, Kostüme, Make-up, Massage, orientalische Dekoration, ätherische Öle, Kerzen und Räucherstäbchen, Erzeugung einer erotischen Atmosphäre, gemeinsames Atmen, lange Umarmungen, Überwinden von Schüchternheit, Sinnlichkeit, anspruchsvolle Stellungen, Verzögerung der Ejakulation, Reichianische Körpertherapie, bioenergetische Übungen usw. sind gut, wichtig und schön, aber gewiss nicht das, was die Tāntrikas im Sinne hatten. Wenn Du die New-Age-Vision des Tantra als die wirkliche Sache akzeptiert, dann kannst Du in einem Denkmuster landen, das Hedonismus, Sinnlichkeit und Körperkult zum Selbstzweck macht. Ich nehme an, dass jene tantrischen Gurus, die tatsächlich Sex in ihrem Programm hatten, wussten, was passiert, wenn Menschen Erotik als den einzigen Weg zur Glückseligkeit und Befreiung ansehen. Wenn Du den Körper zu sehr verehrst, wirst Du in einer totalen Bindung daran enden. Wenn Du nur das Schöne, das Verführerische, das Wünschenswerte kultivierst, was wirst Du machen, wenn Du und Dein Partner alt werden? Und was wird aus der erotischen Spiritualität, wenn Deine Gelenke nicht mehr wollen, Dein Rücken Probleme macht und die Drüsen einfach nicht mehr so viele Hormone produzieren? Ist Tantra nur für junge, fitte, schöne Menschen gedacht? Nein, das ist eben nicht der Fall. In allen authentischen tantrischen Systemen war erotische Praxis bestenfalls ein Teil des Programms, und bei weitem nicht der wichtigste. Wer in Schönheit schwelgt, muss auch das Gegenteil integrieren.
Kommen wir zu dem im Westen so stark vernachlässigten Gegengewicht zu Erotik und dem Kult der ewigen Jugend: Willkommen auf dem Leichenverbrennungsplatz! Buddha hatte seine eigenen radikalen Ideen bezüglich Schönheit und Begierde. Um seinen Anhängern bei der Überwindung der Versuchungen des Fleisches zu helfen, empfahl er die Beobachtung von Alter, Tod und Verfall. Spätere Generationen machten ein ganzes System von unterschiedlichen Meditationen daraus. Dieselbe Idee taucht in zahlreichen Tantras auf, insbesondere in der nördlichen Tradition. Bitte beachte, dass die folgenden Praktiken nicht für alle tantrischen Systeme typisch oder verbindlich sind, und dass es dabei große Unterschiede gab und gibt. Manche Adepten praktizierten Dinge, die von anderen meditativ oder im Ritual symbolisch erlebt wurden. Die Grundidee ist aber weit verbreitet und ausgesprochen relevant: wenn wir das Schöne, Liebliche und Erotische genießen wollen, sollten wir auch dem Schrecklichen, Morbiden und Abstoßenden ohne Hemmungen begegnen können. Tatsächlich liegt, wie schon Baudelaire erkannte, eine ganz eigene Schönheit in Verwesung und Zerfall. Wer diese zu schätzen weiß, hat auch vom eigenen Vergreisen und Tod nicht viel zu fürchten. So entstand eine ganze Reihe von Ritualen und Praktiken, welche die heldenhaften Tantriker von ihrer Todesangst befreien sollten. Manche sind ganz simpel. Am beliebtesten waren Meditationen auf den Verbrennungsplätzen. Hier begegnen wir hinduistischen und buddhistischen Tāntrikas, die es attraktiv fanden, Stätten der Gefahr, des Schreckens, der Furcht, des Ekels und Schmutzes aufzusuchen. Dazu zählen ehemalige Schlachtfelder, Sümpfe, Wegkreuzungen, Wälder und verlassene Gebäude, in denen man mit Geistern rechnen konnte. Wann immer ein Ort einen üblen Ruf hatte, wurde er für heldenhafte Tantriker sofort attraktiv. Im orthodoxen Hinduismus sind Leichen die verunreinigendsten Objekte, die man sich überhaupt vorstellen kann. Ein strenggläubiger Hindu darf keine Leichen berühren, ein Tod in der Familie muss mit zahlreichen Reinigungsriten gut gemacht werden, und Besuche von Verbrennungsstätten erfordern beachtliche Vorreinigungen. Doch Verbrennungsstätten sind nicht nur Orte, an denen Leichen verbrannt werden. Theoretisch mag es ja stilvoll sein, wenn ein Leichnam auf einem Stapel edler Hölzer eingeäschert wird, während die engsten Verwandten dabei Wache halten. Später konnte die Asche dann in den heiligen Ganges geschüttet werden, um mit dem Fluss des Universums eine gute Wiedergeburt oder vielleicht sogar Erlösung zu finden. Doch Indien hat über die Jahrhunderte rapide seinen Wald verloren, weite Gebiete sind heute praktisch Wüste, und Holz ist für viele unerschwinglich. Arme Leute erhielten nicht viel Beistand auf dem Weg ins Jenseits, die Leichen wurden nicht völlig verbrannt, wenn Holz