Brennpunkt Balkan. Christian Wehrschütz
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Gemischte Gefühle für die EU
Gedämpft sind dagegen die Erwartungen, dass die Lage durch den EU-Beitritt besser wird. So sagt eine ältere Frau:2) „Vielleicht mehr Verkehr auf der Donau, vielleicht neue Arbeitsplätze, ich weiß es wirklich nicht.“ Noch skeptischer ist ein Student: „Überhaupt nichts. Vielleicht wird die Ausbildung besser, doch das braucht Zeit.“ Ängste bestehen auch, weil Kroatien nun die CEFTA, die Freihandelszone mit den Nachbarländern Serbien und Bosnien und Herzegowina, verlassen muss. Daher sagt ein älterer Mann: „Unser Austritt aus der CEFTA wird uns mehr schaden, als uns die EU nützen kann. Ihr können wir nicht viel bieten. Unsere Landwirtschaft ist vernichtet, unsere Industrie ist in einer sehr schwierigen Lage. Die ersten Jahre werden wir von der EU keinen Vorteil haben, später vielleicht.“ Vukovar werde schon bald vom Beitritt profitieren, betont Bürgermeister Željko Sabo. Mit Mitteln aus dem EU-Fonds soll ab 2014 eine Kläranlage gebaut werden. Das Projekt koste insgesamt 48 Millionen Euro, doch das Wasser, das in die Donau rinne, werde dann Trinkwasserqualität haben.
Die Stimmung in Vukovar ist durchaus nicht untypisch für Kroatien. Zu groß sind die Sorgen des Alltags, zu groß die Krise in der EU, um dem Beitritt mit Begeisterung entgegensehen zu können. Dabei gleicht das Grundgefühl hier jenem in vielen anderen Krisenregionen im ehemaligen Jugoslawien. Doch es gibt viele Beweggründe, warum eine gewisse depressive Verfassung vorherrscht, auf die man bei Passanten im Zentrum treffen kann. So auch bei einer 60-jährigen Krankenschwester, die nach dem Krieg zunächst in Donaueschingen arbeitete, dann aber wieder an das Krankenhaus in Vukovar zurückging. Nun ist sie in Pension. Ihre Heimkehr begründet sie so: „Ich bin zurückgekommen, um meinen Vater zu finden. Er wurde mit einem Kopfschuss getötet, in die Donau geworfen und tauchte in Serbien irgendwo wieder aus dem Wasser. 13 Jahre wusste ich nicht, was mit ihm geschehen ist. Ich habe Blut für die DNS-Analyse gespendet und erst vor sechs Jahren erfuhr ich, wo er ist. Ich habe ihn zurückbekommen, um ihn hier begraben zu können.“ Die Nachwirkungen des Krieges sind also auch in den Biografien noch allgegenwärtig.
Krieg und Kriegsfolgen
Drei Monate Belagerung hatte Vukovar standgehalten, als es am 18. November 1991 eingenommen wurde. Davor fielen allein im Oktober täglich zwischen 5.000 bis 7.000 Granaten auf die Stadt, 15.000 Häuser wurden zerstört, 22.000 Bewohner flohen oder wurden vertrieben. Als die Stadt von der Jugoslawischen Volksarmee und von serbischen Milizen besetzt wurde, zählte Vukovar noch 15.000 Bewohner und etwa 2.500 Verteidiger, zu denen auch einige Bürger Kroatiens serbischer Nationalität zählten, ein Umstand, der international kaum bekannt ist. Die Zahl der Opfer beziffert die Stadt mit 4.000, darunter zunächst 1.500 Vermisste; nunmehr sind es noch etwa 400 Personen, deren Schicksal ungeklärt ist. 10.000 Menschen kamen in Lager nach Serbien, die Hälfte davon für drei bis 12 Monate; 300 dieser Gefangenen wurden ermordet.
Nach dem Fall der Stadt verübten serbische Milizen ein Massaker an 200 Zivilisten in einer nahegelegenen Schweinefarm bei Ovčar. Jahre später hatte diese Mordtat ein unrühmliches Nachspiel vor dem Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Angeklagt waren drei Offiziere der jugoslawischen Volksarmee, von denen zwei, Major Veselin Šljivančanin und Oberst Mile Mrkšić, für die Sicherheit der Gefangenen in Ovčar verantwortlich waren. Der dritte Angeklagte, Hauptmann Miroslav Radić, wurde bereits in erster Instanz freigesprochen. Mile Mrkšić wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Dagegen entwickelten sich die Urteile im Falle von Veselin Šljivančanin zur Justizgroteske. Wegen Verletzung des Kriegsvölkerrechts wurde er in erster Instanz Ende September 2007 zu fünf Jahren Haft verurteilt und danach auf freien Fuß gesetzt, weil er bereits seit Juli 2005 in Untersuchungshaft gesessen war. Dieses Urteil löste in Kroatien einen Sturm der Entrüstung aus, freute aber Serbien. Beim Urteil zweiter Instanz Anfang Mai 2009 war es umgekehrt, weil Šljivančanin nun zu 17 Jahren Haft verurteilt wurde. Doch das war noch nicht alles; das Verfahren wurde wieder aufgenommen, und das schließlich rechtskräftige Urteil lautete Anfang Dezember 2010 zehn Jahre Gefängnis. Ein halbes Jahr später, Anfang Juli 2011, wurde Veselin Šljivančanin freigelassen, weil er insgesamt zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hatte. Er lebt heute in Belgrad und hat ein Buch über seine Zeit in Den Haag und über Vukovar geschrieben.3)
Der 18. November, der Fall von Vukovar, ist ein bedeutender Gedenktag in Kroatien, der in der Stadt mit einigem politischen Aufwand abgehalten wird. Doch dann herrscht wieder der triste Alltag. Von Gedenkreden und Versprechungen durch Regierungsmitglieder haben die meisten Bewohner genug, Erbitterung und Enttäuschung sind deutlich spürbar. Zum Spielball der Politik wurde Vukovar auch vor den kroatischen Lokalwahlen im Mai des Jahres 2013. Dabei ging es um den Gebrauch kyrillischer Aufschriften. Das bereits vor mehr als zehn Jahren beschlossene Gesetz über nationale Minderheiten sieht das Recht auf derartige Aufschriften vor, wenn in einer Gemeinde ein Drittel der Bevölkerung einer Minderheit angehört. Nach der Volkszählung aus dem Jahre 2011 leben in Vukovar 35 Prozent Serben und 57 Prozent Kroaten. Viele Serben betrachten bereits diese hohe Schwelle als Diskriminierung wie die pensionierte Serbisch-Lehrerin Mara Bekić-Vojnović, die vor dem Krieg am Gymnasium in Vukovar unterrichtet hat und folgender Meinung ist: „Schauen Sie sich doch nur den Prozentsatz an! 33,33 Prozent eines Volkes muss es geben, damit es das Recht auf seine Schrift bekommt – das ist reiner Chauvinismus. Wenn man sich die wilden Reaktionen darauf anschaut, weiß man, was Sache ist. Die Durchführung hängt natürlich vom Staat ab, der fast das ganze Volk gegen sich hat, und das sagt wiederum viel aus.“
Auf kroatischer Seite organisierten vor allem Veteranenverbände Demonstrationen gegen zweisprachige Aufschriften. Dagegen ist auch Tomo Jošić; er kämpfte im Krieg in Vukovar und nach dem Fall der Stadt verbrachte er neun Monate in einem Lager in Serbien. Im August 1992 wurde er gegen serbische Gefangene ausgetauscht. Anschließend arbeitete er mehrere Jahre als Krankenpfleger in Deutschland. Zum Interview trägt er ein Ruderleiberl mit der Aufschrift: „Für ein kroatisches Vukovar, nein zur kyrillischen Schrift.“ Sein Nein begründet Tomo Jošić so: „Gegen Kyrillisch haben wir eigentlich gar nichts. Das Problem ist vielmehr, wie es dazu kam. 1991 haben die Serben unsere Stadt erobert; sie haben 25.000 Personen vertrieben, 5.000 wurden ermordet; es gibt noch immer 400 Vermisste. Somit wurde mit Gewalt das ganze ethnische Bild verändert. Und jetzt zu behaupten, ein Drittel der Bevölkerung hier wäre serbisch … Wer zählt die Toten und Vermissten mit? Kein Mensch fragt danach, und deshalb sind wir gegen Kyrillisch.“
Die Mitte-Links-Regierung in Agram weiß, wie sensibel das Thema ist. Sie konnte sich bisher nur zu Lippenbekenntnissen zum Rechtsstaat aufraffen; die konservative Opposition fordert überhaupt einen vorläufigen Verzicht auf kyrillische Aufschriften. Sie beruft sich auf einen Paragrafen im Minderheitengesetz, wonach bei dessen Umsetzung zu berücksichtigen ist, dass die Anwendung auch der „Entwicklung des Verständnisses, der Solidarität, der Toleranz und dem Dialog“ zwischen Minderheit und Mehrheit zu dienen habe. Am 1. September 2013 ließen Bundesbehörden in Agram in Vukovar Aufschriften in lateinischer und kyrillischer Schrift an der Zollverwaltung und anderen Amtsgebäuden anbringen. Tags darauf zerschlugen etwa 100 kroatische Demonstranten zunächst die Amtstafeln mit Hämmern und demontierten sie anschließend. Bei der Gewaltaktion wurden vier kroatische Polizisten verletzt. An der Anbringung derartiger Tafeln will die Regierung trotzdem festhalten.
Ein Mahnmal für sinnlose Zerstörung: der Wasserturm von Vukovar