Eine verborgene Welt. Alina Tamasan
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„Los jetzt!“, befahl sein Vater. Murrend erhob sich der Gniri von seinem Lager, derweil er sich die klebrigen Finger leckte. Dann band er sich eilig seinen Gürtel um die Hüfte, an dem mehrere kleine Beutel befestigt waren, und verschwand durchs Fenster nach draußen.
Kühle Morgenluft schlug ihm entgegen. Hinter sich hörte er seine aufgebrachte Mutter lauthals zetern, was Gabra einfiele, einen so großen Happen zu klauen und diesem kleinen Taugenichts von Sohn in den Rachen zu schieben, aber das alles kümmerte ihn nun nicht mehr. Er hielt für einen Augenblick inne, um die aufgehende Sonne zu begrüßen und rannte los, direkt auf Pytheras Eichenhain zu.
Der Baum, vor dem er stand, war weder besonders groß, noch außergewöhnlich schön. Die Wohnstatt, die in seiner Krone eingebettet lag, war einfach und bescheiden. Kaum einer hätte bei deren Anblick vermutet, dass dort die Heilerin Pythera wohnte, eine weise Druidin, die zugleich das Oberhaupt des Iàtranür Ìrimaar3 war. Manch einer spottete im Verborgenen darüber, dass sie nicht standesgemäß wohne und verkommen sei, aber Rangiolf gefiel der rustikale Stil ihrer Behausung ebenso sehr wie er deren Bewohnerin achtete und ehrte. – Er kletterte behände empor und klopfte an die Tür.
„Herrin“, rief er laut, „bist du da?“ Er legte sein großes spitzes Ohr an die Tür und lauschte.
„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst deine Lauscher nicht überall hin strecken?“, hörte er eine helle Stimme von drinnen lachend fragen. Rangiolf zuckte zusammen und nahm Haltung an. ‚Woher sie das nur wieder weiß?‘, fragte er sich achselzuckend.
„Na, ich kenne dich doch“, reagierte die Stimme, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Die Tür ging knarrend auf. Rangiolf kratzte sich verlegen an den Borsten seiner Arme. Da kam ihm Gabras Juckgeschichte wieder in den Sinn. Er blickte auf und direkt in ein bernsteinfarbenes Augenpaar, das liebevoll auf ihn herab sah.
„Worauf wartest du? Komm rein“, sagte die Gniri, packte ihn sanft an der Hand und zog ihn in die Behausung. Zwei kleine runde Löcher dienten als Fenster und erhellten spärlich den Raum. Er war Wohn-, Ess- und Schlafzimmer zugleich und mit allerlei Dingen voll gestellt, von denen manche Rangiolf vertraut, andere dagegen fremd waren. So konnte er zum Beispiel nicht oft genug den großen, hellen Stein bestaunen, der wie eine Lampe von der Decke hing und bei Nacht den ganzen Raum in warmes Licht tauchte, oder die Feuerstelle, die inmitten des Raumes viel Platz beanspruchte und dazu benutzt wurde, um so manches geheimnisvolle Gebräu herzustellen oder sich zu wärmen. Zig kleinere und größere bauchige Flaschen standen in Reih und Glied auf einem Holzregal, das unter seiner Last zusammenzubrechen drohte. Rangiolfs Blick blieb daran haften und wie so oft krauste er die Stirn.
„Keine Sorge“, lachte Pythera und strich sich durch das hellbraune Haar. Der Gniri schüttelte ratlos den Kopf und nahm neben ihr auf der Liege Platz.
„Du, du“, begann er stockend jene Diskussion, die er schon während der ersten Tage seiner Ausbildung mit ihr entfacht hatte, „woher weißt du immer, was ich denke? Das ist doch nicht normal!“ Pythera grinste breit und leckte sich schelmisch die Lippen. „Ich, ich …“, führte sie seine Rede fort.
„Es ist einfach so, finde dich damit ab. Deswegen bist du doch nicht zu mir gekommen, oder?“
„Ähm, nein“, murmelte er verlegen, während er nachdenklich sein Kinn rieb. „Was war es noch mal? Ah ja, die Weihe, die Ovatenweihe. Die soll an Vollmond sein. Mein Vater will wissen, ob es heute ist, denn seine Borsten jucken.“ Ohne es zu merken, kratzte er sich wieder an seinen eigenen.
„Ja, die ist heute“, die Gniri nickte, „aber das solltest du doch am Besten wissen, oder?“ Sie sah ihn erwartungsvoll an. Rangiolf wurde rot.
„Ähm … ja“, flüsterte er. Trotzdem verstand er nicht, warum gerade er es wissen sollte, wo doch die letzten Monde seit der Ankündigung ereignislos verstrichen waren.
„Heute Nacht, wenn der Mond ganz oben steht, kommst du her. Bring deine Eltern mit.“
„Meine Eltern?!“, rief der Gniri bestürzt.
„Ja, was ist so schlimm daran?“ Er spürte, wie ihm heiß und kalt wurde und senkte verlegen den Blick. Gleichzeitig arbeitete sein Verstand fieberhaft an der richtigen Wortwahl einer Antwort. „Wenn … also wenn …“
„Rangiolf, schau mich an.“ Der Gniri seufzte und blickte auf. Dabei sah er wie ein Häufchen Elend aus.
„Sag mir, was du auf dem Herzen hast.“
„Meinen Vater wird es freuen mitzukommen, aber meine Mutter nicht, sie will das alles hier nicht.“
„Was noch?“
„Wenn er kommt und mir zuschaut, dann wird er wieder seine Faxen machen. Also dieses Mich-stolz-anschauen und dabei die Hände reiben und tanzen und was weiß ich alles. Denn ich bin ja sein besonderer Sohn … also, lieber nicht, ja? Bitte, lass mich alleine kommen.“
„Es ist aber notwendig, dass deine Eltern dabei sind“, antwortete Pythera knapp.
„Warum?“, fragte Rangiolf verwundert.
„Weil …“, die Heilerin stockte, und ihr Blick wurde auf einmal sehr nachdenklich.
„Weil?“, hakte der Gniri nach.
„Das wirst du dann sehen. Und nun schau, dass du raus kommst, die Raupen warten! Die, die du da in deinem Beutel hast, reichen bestimmt nicht aus, um Hiara zufrieden zu stellen, oder?“ Rangiolf atmete geräuschvoll aus. Er war nicht zufrieden mit Pytheras Antwort. Sie machte immer Andeutungen, die seine Neugier entfachten, nur, um ihm dann zu sagen, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern. Warum tat sie das? Er sah sie trotzig an und suchte in ihrer Miene nach einer Antwort.
‚Alles zu seiner Zeit‘, sagten ihre bernsteinfarbenen Augen, die in einem zeitlosen Antlitz ruhten, das gleichzeitig unendlich alt zu sein schien. So oft hatte Rangiolf sie fragen wollen, wie alt sie denn eigentlich sei, aber er hatte sich nie getraut, denn solche Fragen galten als unhöflich. – Er erhob sich und verabschiedete sich mit einem stummen Kopfnicken. Dann trat er ins Freie und kletterte hinunter auf den Waldboden.
„Sooo“, grunzte er und schob einen leisen Schmatzlaut hinterher, „nun schauen wir mal, was die Raupen machen, wie viele ich wohl noch brauche?“ Er öffnete den Beutel, der links an seinem Gürtel hing, und stellte zufrieden fest, dass sich der Inhalt noch rege bewegte. „Jaaa, das Futter, das ich euch gegeben habe, schmeckt euch, was?“, lächelte Rangiolf. „Aber, ihr seid mir noch viel zu Wenige. Hiara kommt heute, wenn die Sonne hoch steht, also muss ich noch ein paar finden, denn die Steine …“, er schnürte den Beutel zu und öffnete den auf der rechten Seite, „sind zu wenige, der Bedarf ist hoch.“
Wie von einer Tarantel gestochen sauste er los. Er hüpfte geschickt über umgefallene Baumstämme und schob sich durch schmale Durchgänge in dornigem Gestrüpp. Dabei wanderten seine hellblauen Augen suchend die Umgebung ab. Im Laufen sah er sich die Blätter der Bäume, das feuchte Moos und die Samen von Buchen an – überall konnte eine Raupe kriechen! Dann entdeckte er etwas und blieb abrupt stehen: Eine Nuss!
„Oh“, staunte Rangiolf, „eine Walnuss. Normalerweise findet man die hier nicht …“ Er kratzte sich am Ohr und drehte das runde Gebilde in seinen bekrallten Fingern hin und her. Dann hielt er inne. Irgendetwas hatte mit scharfen Werkzeugen ein Loch hinein gefräst. Er linste hinein, konnte aber nichts erkennen. Dann richtete er sein Ohr auf, schüttelte die Nuss und horchte. Was konnte nur darin hausen? Rangiolf runzelte die