Cantata Bolivia. Manfred Eisner
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Die Sommer-Schulferien haben also begonnen. Ehepaar Kahn war vorab schon einmal in den Yungas. Sie fahren nun mit ihren beiden Kindern Thea und Alfred sowie mit Moses Kovacs in der ersten Ferienwoche voraus.
Dann kann es auch für die anderen endlich losgehen! Heiko, Josef und Frauke bringen zunächst Clarissa und die beiden Kinder zur Calle Caiconi, jene Straße, von der aus sämtliche Fahrzeuge in die Yungas-Region abfahren. Clarissa, Oliver und Lissy besteigen den Colectivo, einen Kleinbus, der zufälligerweise heute eine Sonderfahrt mit Sommergästen für das in den Südyungas gelegene Hotel Chulumani durchführt und noch ein paar Plätze frei hat. Josef bezahlt die Fahrt und instruiert den Fahrer, er möge bitte die drei Passagiere bis zum Ort Puente Villa bringen und sie dort an der Casa Blanca – dem weißen Haus – absetzen. Clarissa hat von Josef erfahren, dass sie dort ein gewisser Herr Adler erwartet, der ihnen weiterhelfen wird. Für Josef, Frauke und Heiko, die ebenfalls mitreisen sollen, ist in dem Colectivo kein Platz mehr, also werden sie mit der nächsten Fahrgelegenheit folgen.
Die abenteuerliche Fahrt im Colectivo beginnt in einer Höhe von 3.652 Metern in La Paz. Beim Erreichen der Stadtgrenze passieren sie einen Kontrollposten der Verkehrspolizei. Wegen der großen Gefährlichkeit des Camino de los Yungas gilt für diese Straße ein strenges Nachtfahrverbot. Die Zufahrt ist deshalb mit einem Schlagbaum versehen, der um drei Uhr nachmittags niedergeht und bis zum Sonnenaufgang am nächsten Morgen kein Fahrzeug mehr durchlässt. An einem neben der Straße gelegenen Parkstreifen halten bis über die genehmigte Höhe voll beladene Lastwagen, um den Schalldämpfer vom Auspuff zu trennen. Diese Maßnahme vermindert den Rückstau der Auspuffgase und verhilft so dem Fahrzeug zu etwas mehr „Puste“ beim bevorstehenden, sehr strapaziösen Aufstieg.
In lang gezogenen Serpentinen windet sich die steile, einspurige und kurvenreiche, mit losem Schotter bepflasterte Autostraße den Hang hinauf. Mühevoll kriecht der Kleinbus die fünfundzwanzig endlos scheinenden Kilometer bis zur Cumbre hinauf, dem auf etwa 4.200 Metern Höhe gelegenen Pass. Fühlbare Kälte dringt in den unbeheizten Fahrgastraum des Colectivos, abgestrahlt von den mächtigen, mit ewigem Schnee bedeckten Fünf- und Sechstausendern. Der Beifahrer, ein Indiojüngling, verteilt Pappbecher an die Reisenden, die er daraufhin mit Mate de Coca aus Thermosflaschen befüllt. Wie ihnen bereits von der Bahnfahrt von Arica nach La Paz bekannt ist, ist der heiße Aufguss nicht nur ein probates Mittel gegen das Unwohlsein in dieser Höhe, sondern er wärmt zugleich die frierenden Hände. Oliver und Lissy bekommen zusammen einen Becher, aber Lissy verweigert den bitteren Trunk. Dennoch achtet Clarissa darauf, dass Oliver nicht mehr als die Hälfte des Bechers leer trinkt.
Im weiteren Streckenverlauf schlängelt sich die Autostraße im Angesicht der imposanten Anden in ebenso engen Haarnadelkurven sechzig Kilometer bis auf 1.200 Meter über Meereshöhe steil hinab in jene feuchte und subtropische Gegend, in der die Malaria als unbesiegte Herrscherin thront. Treffen hier zwei entgegenkommende Camiones – Lkws – aufeinander, muss der talwärts Fahrende bis zur nächsten Ausweichstelle rückwärts kriechen.
Nach einer weiteren Fahrstunde befinden sie sich etwa 800 Meter tiefer und der Fahrer des Colectivos macht zur Mittagspause Halt in der kleinen Ortschaft Unduavi. Hier befindet sich ein weiterer polizeilicher Kontrollpunkt und hier ist die Aduana de la Coca ansässig, die amtliche Zollstelle, an der für die aus den Yungas heraustransportierten Cocablätter der entsprechende Impuesto – Tribut – zu leisten ist.
Während der Pause knabbert Oliver genüsslich an einer mit pikanter Ajísauce gewürzten Hühnerkeule; Clarissa und Lissy hingegen verzichten auf das scharfe Essen und begnügen sich mit den mitgebrachten Butterbroten und den hart gekochten Eiern.
An diesem Ort gabelt sich die Straße in die beiden Routen zu dem Nord- und dem Südyungas, welchem unser Colectivo nun folgt. Weiter geht die Reise durch eine beeindruckende Szenerie in immer tiefer gelegene und zunehmend bewaldete Regionen. Hier und dort stürzen aus den weiter oben gelegenen Felsen anmutende Wasserfälle wie silberne Pfeile. Diese münden in die einige Hundert Meter tiefer in engen Tälern gelegenen wild rauschenden Flüsse.
Dann, plötzlich – eine abrupte Vollbremsung in unmittelbarer Nähe des Kühlers eines entgegenkommenden Lastwagens. Der junge Beifahrer springt aus dem Fahrzeug und weist dem Busfahrer die sicherste Spur bis zur nächsten Ausweichstelle, zu der sie im Schritttempo rückwärtsfahren. Erschreckt blickt Clarissa aus dem Fenster in den direkt neben dem Colectivo beginnenden, endlos tief erscheinenden Abgrund. Im Zeitlupentempo schleicht der entgegenkommende Lastwagen vorbei, bis die Gefahr gebannt ist.
Schon fast sieben Stunden lang dauert die Fahrt und die Kinder werden immer ungeduldiger. „Wann sind wir endlich da, Mami?“, fragt Lissy alle paar Minuten.
Zunehmend unruhiger geworden, verfolgen auch Oliver und Clarissa mit den Augen jedes neben der Autostraße stehende weiße Haus. „Hat uns der Fahrer vielleicht vergessen?“, fragt Oliver seine Mutter besorgt.
„Geh doch hin und frag ihn“, antwortet Clarissa, denn auch sie ist verunsichert.
„Señor, por favor, la casa blanca?“, fragt Oliver den Chauffeur.
„En 10 minutos, más o menos.“
Immer wieder dieses „más o menos“, sinniert Clarissa amüsiert. Man hört es hier ständig. Es bedeutet so viel wie „mehr oder weniger“ aber eher „Nichts genaues weiß man nicht“, wie wir bei uns sagen würden.
Kurz darauf verlangsamt der Kleinbus die Fahrt und überquert sehr behutsam die ächzende Holzbrücke über einem darunter munter strömenden Fluss. Nachdem sie an der anderen Talseite noch etwa 500 Meter gefahren sind, kommt das Fahrzeug zum Stehen. Der Chauffeur blickt in den Rückspiegel und meldet zur Erlösung Clarissas und der Kinder: „Puente Villa, Señora, la casa blanca.“
Erleichtert und mit steifen Gliedern steigen die drei aus. Feuchte Hitze schwebt ihnen wie ein Hauch entgegen. Agil klettert der Indiojüngling auf das Dach des Colectivos und reicht Clarissa das Gepäck herunter. Clarissa bedankt sich beim Fahrer, drückt ihm 5 Bolivianos in die Hand und gibt schließlich auch dem „chico“ 2 Bolivianos.
Mit einem strahlenden Lächeln kommt ihnen Hans Adler, ein strahlender, robust und jugendlich wirkender Vierziger, entgegen. „Bienvenidos, willkommen in unserem schönen Yungas, junge Frau, und auch ihr seid willkommen, liebe Kinder.“ Er begleitet sie zur weiß getünchten, im Schatten liegenden kleinen Hütte, wo sie von einem bereits etwas älter wirkenden Indio ebenfalls freundlich begrüßt werden. „Mariano ist zwar erst fünfunddreißig Jahre alt“, erläutert Herr Adler und antwortet damit auf die in Clarissas Miene liegende stumme Frage, „jedoch ist er wegen der tückischen Terciana, eine hier grassierende, besonders schwere Abart der Malaria, die bei ihm regelmäßig alle drei Tage starke Fieberanfälle auslöst, derart auffällig gealtert. Zudem sind seine Pupillenränder gelb anstatt, wie üblich, weiß gefärbt.“
Ziemlich erschüttert von dieser Aussage sieht sich Clarissa im Miniladen um: Offene Säcke mit getrockneten Cocablättern, gelben Erbsen, Saubohnen, Reis und Nudeln stehen am Boden; Sardinenkonserven, Getränkeflaschen und Zigaretten füllen die Regale. Neben dem Eingang fallen ihr die dort lagernden grünen Bananenstauden auf.
Marianos Frau öffnet Bier- und Coca-Cola-Flaschen und serviert Clarissa und den Kindern die lauwarmen Getränke in emaillierten Blechbechern. Für die Kinder gibt es Kekse dazu.
„Tja, liebe Frau Keller“, sagt Hans Adler, nachdem sie getrunken haben, „wir müssen