Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer. Mady Host
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Читать онлайн книгу Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer - Mady Host страница 8
Von meiner dunklen Vergangenheit als vermeintliche Mörderin wissen die beiden zum Glück nichts und schlagen vor, mich zu adoptieren. Ich läge schließlich altersmäßig zwischen ihren Jungs und über ein Mädchen würde sich Claudine sowieso freuen. Wir lachen viel und plaudern ununterbrochen, was der weiteren Schulung meiner Sprachkenntnisse sehr zugute kommt. Englisch oder andere Sprachen beherrschen die beiden kaum, sodass uns lediglich ihre Muttersprache bleibt. Wir haben für heute unterschiedliche Campingplätze anvisiert, weil diese aber nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen und wir uns so mögen, einigen wir uns auf ein gemeinsames Tagesziel: Chagny, eine 5500-Seelen-Gemeinde im Département Saône-et-Loire. Hier wählen wir für unsere Zelte zwei nebeneinander liegende Parzellen aus. Nicht lange, nachdem wir aufgebaut haben, linst Claudine über die Hecke und lädt mich zum Abendessen ein. Natürlich sage ich sofort zu.
Die hohe Esskultur der Franzosen zeigt sich sogar beim Camping, denn das Essen, was die beiden zaubern, ist um Welten besser als meine traditionelle Pasta, in die ich allabendlich eine andere Sorte Tütensuppe rühre. Hier gibt es Nudelsuppe mit frischem Brokkoli, dazu Brot, Cracker, Obst. Mein Magen freut sich über die hochwertigen Zutaten, mehr jedoch noch über die liebenswerte Gesellschaft. Während Claudine herrlich mitreißend lacht, ist Didier eher der Typ stiller Schmunzler, mit Augen, die sich mit ihm und der Welt freuen. Claudines Persönlichkeit wird von ihren frechen kurzen Haaren und der sportlichen Figur, die in einer langärmligen karierten Outdoorbluse sowie einer Funktionshose steckt, unterstrichen. Didier ist groß und drahtig, hat eine Glatze und auf seiner Nase sitzt eine Brille mit schmalem dunklem Rand, über Kinn und Wangen verteilen sich weiße Bartstoppeln. Das Bild dieser beiden Menschen auf der großen Camping-Plane, die zugleich Buffettafel ist, ist herrlich. Fröhlich schlemmen die Eheleute und bieten mir immer wieder von ihrem leckeren Brot an. Wir kommen ins Philosophieren darüber, wie gut wir es doch alle gerade haben – in herzlicher Gesellschaft, an der frischen Luft und der gleichsam reichhaltigen sowie schmackhaften Nahrung.
„Hach, was haben wir es schön. Wir dürfen die Reise machen, die uns mit dem, was der Mensch wirklich braucht, auskommen lässt“, preist die quirlige Claudine unser Beisammensein.
„Das ist es, was uns so gefällt: das simple Leben, die Natur, das Bewegen an der frischen Luft“, ergänzt ihr Mann.
„… wohlgemerkt freiwillig“, schaltet sich seine Liebste wieder ein, „wir haben diese Einfachheit bewusst gewählt. Natürlich kippt das Konzept, wenn du ohne Wohnung bist, auf der Straße leben musst, an Würdegefühl verlierst, weil du schmutzig bist, da du keine Dusche hast und nicht, weil du darauf verzichtest, wenn – wie bei uns – auch mal ein schöner Wildcampingplatz lockt.“
Ich nicke und glaube den beiden jedes ihrer Worte, als ich auf den Auslöser meiner Kamera drücke und ihre strahlenden Gesichter einfange.
Im Laufe des Abends stellen wir fest, dass wir einige Reiseerfahrungen wie Pilgertouren teilen. Die beiden haben genauso wie ich die Distanzen ihrer Radwanderungen kontinuierlich gesteigert. Mit dem aktuellen Vorhaben von 4000/5000 Kilometern soll es auch ihre bisher längste Tour auf zwei Rädern werden.
Nachdem wir uns aufgrund beginnenden Regens voneinander verabschiedet haben, sitze ich in meinem Zelt, die Beine stecken im Schlafsack und ich lächele, weil ich glücklich bin über meine neuen Bekannten. Wir ticken gleich, finden es schön, unbeschwert und aus eigener Kraft zu reisen, sind der Meinung, dass Träume angepackt werden müssen und empfinden Dankbarkeit für das Leben, welches man uns teils geschenkt, was wir uns aber auch selbst geschaffen haben. Nur in einer Sache sind wir nicht einer Meinung, etwas, das allerdings dafür sorgt, dass sich mein Glück heute sogar noch steigert: Sie mögen Vollmilchschokolade nicht sonderlich gern, sodass ich mein Gastgeschenk wieder mit in mein Zelt genommen habe, wo ich nun Stück für Stück die ganze Tafel allein aufesse. Das ist definitiv die gute Seite der Medaille …
Meine französischen Eltern
Für mich steht ein weiteres Familien-Highlight an, denn der Bruder meiner bereits verstorbenen Großmutter mütterlicherseits gründete nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Frankreich eine Familie. Ihre Angehörigen bekomme ich sporadisch zu Gesicht, zuletzt 2014 während meiner Interrailtour. Heute werden wir uns endlich wiedersehen, was mich mit großer Vorfreude erfüllt und in den Monaten vor der Reise beachtliche Triebfeder fürs Französischpauken war, denn die drei Familienmitglieder, die ich sehen werde, sprechen ausschließlich ihre Muttersprache. Einziger Wermutstropfen: Ich muss befürchten, meine neuen Radlerfreunde Claudine und Didier zu verlieren, weil ich nur knapp 25 Kilometer bis nach Chalon-sur-Saône zurücklege. Die beiden werden – wie ich sonst auch – ihre achtzig bis einhundert Kilometer rollen.
Trotz der kurzen Zeit im Sattel gelingt es mir heute, einen Rekord zu erreichen: Ich knacke die Eintausend-Kilometermarke, und das bei bestem Sonnenschein.
Der Beiname der Stadt, in der ich am frühen Mittag ankomme, kündigt schon an, dass der Fluss, die Saône, künftig mein Begleiter durch die historische Region von Burgund sein wird. Doch ans Weiterfahren will ich noch nicht denken, als ich mich auf den Weg zum Bahnhof mache, auf dessen Parkplatz die Nachkommen beziehungsweise Ehepartner meines Großonkels ihr Auto abstellen. Wir herzen und drücken uns ausgelassen, setzen uns dann in ein nahegelegenes Café. Trotz der Seltenheit unserer Treffen spüre ich sogleich eine angenehme Nähe zu ihnen und es kommt mir vor, als würden wir uns viel öfter sehen, als es die Realität hergibt. Wir verbringen die nächsten zwei, drei Stunden miteinander, reden über Alltag und Familie, schwelgen in Erinnerungen an die Besuche in den 1990er-Jahren. Ich muss ausführlich von meiner Reise und den Daheimgebliebenen berichten, besonders am Wohlergehen meines über neunzigjährigen Opas sind sie interessiert.
Es wäre so schön, wenn wir noch einmal alle zusammenkämen, egal, ob in Deutschland oder Frankreich, sind wir uns einig. Vielleicht liegt es an uns, der nachfolgenden Generation, das zu organisieren? Eines der Kinder habe auch ein großes Interesse, den deutschen Teil der Familie kennenzulernen, höre ich und muss lächeln, als ich an den kleinen Jungen denke, der er war, als ich mit meinen Eltern Frankreich besuchte. Damals erschien unser Altersunterschied von fünf oder sechs Jahren gigantisch, heute spielt es wohl kaum eine Rolle, dass wir Ende zwanzig und Mitte dreißig sind …
Meine echte französische Familie
Puh, ich bin ganz schön erschöpft von dieser Intensiveinheit im Sprachenlernen, als wir uns nach einem gemeinsamen Foto zur Abendzeit voneinander verabschieden. Die Freude über das Wiedersehen mit Menschen, die ich so selten treffe und doch als so vertraut empfinde, ist aber größer als die Müdigkeit.
So laufe ich noch einige Zeit beschwingt durch die Gassen dieses einladenden Ortes, beobachte Menschen, die vor Cafés und Restaurants sitzen. In der zweitgrößten Stadt in Burgund lockt vor allem die Kathedrale St. Vincent am gleichnamigen Platz mich und meine Kamera an. Die Altstadt rund um die Kathedrale ist so gut erhalten, dass es mir riesigen Spaß bereitet, an den Fachwerkhäusern entlang zu spazieren. Rast mache ich etwas abseits in einem kleinen Lokal in einer schmalen Gasse. Ich bekomme einen der wenigen Außenplätze ab und lasse mir einen regionalen Rotwein empfehlen. Der Givry trifft meinen Geschmack gut und schenkt mir einige Zeit des stillen genießerischen Seins und Beobachtens vorbeischlendernder Menschen. Als das Glas geleert ist und ich eigentlich gerade zahlen will, komme ich mit dem Kellner ins Gespräch, der sich als Besitzer des Lokals vorstellt.
Bummel