Im Bann der bitteren Blätter. Manfred Eisner
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Читать онлайн книгу Im Bann der bitteren Blätter - Manfred Eisner страница 18
Viele Immigranten waren bereits von den im Leitungswasser mitgeführten Krankheitserregern, vor allem Typhusbakterien, befallen und erkrankten schwer. Etliche von ihnen sind sogar daran gestorben. Josef hat uns deshalb, wie auch alle anderen Hausbewohner, zur Typhusimpfung zum Amerikanischen Gesundheitsdienst gebracht, wo wir eine sehr schmerhafte Spritze erhielten. Fast alle hatten an den nachfolgenden zwei bis drei Tagen erhöhte Temperatur und der Oberarm war um die Einstichstelle herum stark gerötet und tat recht stark weh. Einige Wochen danach mussten wir noch einmal dorthin und wir wurden gegen Viruela, die schwarzen Pocken, geimpft, die hier ebenfalls überall grassieren. Beide Impfungen müssen alljährlich wiederholt werden.
Ebenso bedeutend: In dieser Höhe hat die Luft beachtlich weniger Sauerstoff, deshalb geht einem beim schnelleren Gehen oder gar bei einer der vielen steil ansteigenden Straßen in dieser Stadt rasch die Puste aus.
Oder auch:
Nicht, dass ich mich beklagen will, uns geht es ja gut in diesem Land, das uns das Leben gerettet hat. Wir haben ein Dach über dem Kopf, sind von netten Menschen umgeben, mit denen wir uns gut verstehen und wo gegenseitige Hilfe großgeschrieben wird. Zudem leiden wir keinerlei Not! Dennoch ist mir dieses doch immer noch fremd gebliebene Bolivien – vorwiegend sind es die Einheimischen – nicht ganz geheuer. Man ist sich fremd und bleibt es auch, beäugt sich gegenseitig stets mit Misstrauen. Nicht dass wir besonders kultiviert wären, aber hierzulande herrschen ganz andere, für uns ungewohnte Sitten und sonderliche Gebräuche. Außerdem sind da meine Sprachhemmnisse. Ich habe mir zwar inzwischen einen ausreichenden Wortschatz angeeignet, um im täglichen Leben gut bestehen zu können, jedoch beherrsche ich das Spanische noch lange nicht. Und die Umgangssprache der Indios, das Aymara, klingt nach wie vor ungemein fremd in meinen Ohren.
Wenn ich täglich zum Einkaufen in den Mercado gehe und an so mancher Straßenecke die Cholas dabei beobachte, wie sie unter ihren weiten Polleras hocken und ungeniert ihre Notdurft verrichten, muss ich immer wieder angeekelt wegschauen! Ich wundere mich auch darüber, wie sie gelegentlich zu zweit am Boden hocken und gegenseitig die Haare nach Läusen absuchen. Besonders unappetitlich ist aber, dass sie, wenn sie so ein Insekt ausgemacht haben, es zwischen ihren Zähnen totbeißen. Pfui!
Leider sind auch die Männer ungemein aggressiv. Jeder kleine Rempler, wenn man aneinander vorbeigeht, wird sehr schnell zur haltlosen Prügelei! Die Kerle gehen sich wie wütende Kampfhähne an die Gurgel, vor allem dann, wenn sie Alkohol getrunken haben – was oft der Fall ist. Nachts hört man sie, wenn sie laut grölend und fluchend die Avenida Ecuador entlangtorkeln und wiederholt „Viva Bolivia, carajo!“ brüllen. Oft werden dabei auch obszöne Schimpfworte gegen Politiker, Ausländer oder Judíos – Juden – ausgerufen. Dabei kommt immer häufiger zum Ausdruck, die bösen Ausländer seien nur ins Land gekommen, um ihnen, den Einheimischen, das Brot aus dem Munde zu stehlen! Jedenfalls ist einem dabei nicht ganz wohl unter der Haut!
Auch Lissy trägt einiges bei, denn sie erzählt von Erfahrungen und Erlebnissen aus ihrer Kindheit und Jugendzeit.
„Was ich daraus insgesamt entnehme, ist, dass die von den sogenannten Weißen seit der spanischen Kolonialzeit geschundenen und über zwei Jahrhunderte bewusst niedrig gehaltenen Indios und Cholos verständlicherweise einen starken Groll und Rochus gegenüber allen Hellhäutigen In- oder Ausländern hegen“, fasst Nili als Fazit dieser Berichte zusammen. „Das dürfte nicht nur in Bolivien, sondern auch in Perú und Colombia nicht anders sein. Die dort nach wie vor bestehenden krassen Vermögensunterschiede zwischen Arm und Reich – ohne dazwischen eine ausreichende und gewachsene Mittelklasse als Balance – schüren gleichwohl Ablehnung und Antipathie der ‚Nichthabenden‘ gegen den oft protzigen Wohlstand der ‚Habenden‘. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass nun auch in Bolivien, wie zunächst Castro in Cuba, danach Chavez in Venezuela und seit einigen Jahren Boliviens Evo Morales’ sogenannte ‚Demokratiebewegung‘ eine solche Beliebtheit bei der indigenen Bevölkerung genießt. Aber gerade der Letztgenannte ist es doch, der sich hauptsächlich deren Rückhalt und Unterstützung mit der Legalisierung und Förderung des Coca-Anbaus erkauft hat. Nicht genug, dass die Gesundheit der eigenen Bevölkerung durch das regelmäßige Kauen der Blätter erheblich beeinträchtigt wird, verseuchen sie auch noch ihre eigene Umwelt durch die unsachgemäßen chemischen Manipulationen, um aus diesen Blättern das Kokain zu extrahieren! Und dieses Gift wird dann tonnenweise zu uns verfrachtet. Denke ich darüber nach, komme ich mir langsam wie ein Don Quijote im Kampf gegen die Windmühlen vor, denn solange bei uns ein Markt für diesen Schmutz vorhanden ist, werden sie ihn weiterhin liebend gern beliefern!“
Nili recherchiert fleißig aus sämtlichen ihr zur Verfügung stehenden Quellen. Sie hat sich dafür nach Feierabend und an den Wochenenden im früheren Arbeitszimmer ihres verstorbenen Großvaters Heiko eingenistet, das dieser samt dem Haus des ehemaligen Familienfreundes der Urgroßeltern von Steinberg – Onkel Harald Suhl – auch nach der Rückkehr der Kellers nach Oldenmoor wieder bewohnt und dessen ursprüngliche Bibliothek er erheblich erweitert hatte. Eine Menge Artikel erforscht sie aus Presse und Broschüren, zahlreiche Bücher hat sie im Buchhandel erworben oder als E-Book aus dem Internet heruntergeladen. So T. Jägers und A. Dauns „Die Tragödie Kolumbiens“, J. Webers „Kolumbien als Zentrum der globalen Kokaindustrie“, „Drogenpolitik im Fall Perú“, von A. Kaufmann, R. Lessmans Bericht über Bolivien unter Evo Morales und nicht zuletzt auch den spannenden Bericht des Stefan Liebert über seine atemberaubende Drogendealer-Karriere in Deutschland. Nachdem sie all dieses umfassende Wissen in sich hineingefressen hat, hält sie inne. „Ich lasse jetzt erst einmal die weiteren Ereignisse auf mich zukommen“, berichtet sie eines Tages ihrer Mutter und Großmutter. „Danach werden wir sehen!“
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