Im Bann der bitteren Blätter. Manfred Eisner

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Im Bann der bitteren Blätter - Manfred Eisner

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nahe ran, sie hatten ein Lübecker Kennzeichen, KS 727, am Heck. Irgendwann kam eine Kurve, ich musste runter vom Gas, und dann schoss plötzlich das verdammte Rehkitz quer auf die Fahrbahn.“

      „Das Nummernschild ist ganz sicher gestohlen, aber wir checken es trotzdem.“ Nili greift nach dem Telefonhörer. „Und nun ab mit euch!“

       ***

      Nili wartet schon vor ihrer Haustür, als Melanie in dem Mercedes Kombi ihres Vaters in die Theodor-Heuss-Straße einbiegt und neben ihr anhält. Sobald sie eingestiegen ist, fahren sie los.

      „Vielen Dank, liebe Nili, dass du mich bei meiner so schweren Mission begleitest“, sagt Melanie und drückt ihrer Freundin fest die Hand.

      „Ist doch selbstverständlich, wozu sonst hat man denn Freunde? Nochmals mein allerherzlichstes Beileid.“ Nili blickt auf ihre ganz in Schwarz gekleidete ehemalige Schulkameradin, die nur wortlos nicken kann. Sie selbst hat einen grauen Pulli und eine schwarze Hose angezogen.

      „Wie geht es deiner Mutter?“, fragt Melanie etwas später.

      „Ach, eigentlich wieder ganz gut!“ Nach einer kurzen Pause setzt Nili fort: „Seit sie auf dem Eulenhof der Familie Carstens ihre freilaufenden Hühner betreut, ist sie wieder ganz in ihrem Element.“

      Danach schweigen sie. Während sie entlang der Bundesstraße in Richtung Autobahn und dann weiter nach Hamburg fahren, versinkt jede in ihren eigenen Gedanken.

      Nachdem Nilis Großeltern, Heiko und Clarissa Keller, Anfang der fünfziger Jahre aus dem langjährigen Exil in Bolivien nach Oldenmoor zurückgekehrt waren, hatte ihre Mutter, Elisabeth Keller, damals noch Teenager, ihre beiden letzten Jahre bis zum Abitur in Hamburg verbracht. Danach machte sie aber ihren bereits in Bolivien gefassten Entschluss wahr, nach Israel auszuwandern. Eigentlich meinte Lissy, wie sie von allen genannt wurde, sie sei ja gewissermaßen nur „eine vierteljüdische Deutsche“, jedoch hatten sie die schwerwiegenden Begleiterscheinungen der argen nationalsozialistischen Ära, die sie, ihren Bruder Oliver und ihre Eltern zur Auswanderung genötigt hatten, derart geprägt, dass sie sich innerlich uneingeschränkt ihrem Judentum verbunden fühlte. Dies allerdings in einer absolut konfessionslosen Manier, denn ebenso wie ihr Vater und auch ihr Bruder hielt sie absolut nichts von irgendeinem Glauben und dessen Religionsausübung.2

      In Israel eingetroffen, trat Lissy in den Kibutz Halonim in Galiläa ein, am Fuße der Golanhöhen ganz in der Nähe der damaligen Grenze zu Syrien gelegen, und gesellte sich dort zu den vielen Vereinskameraden ihrer vormaligen La Pazer jüdischen Jugendbewegung. Schon während der Kindheit war sie betont naturverbunden gewesen. In den zumeist auf der Hacienda ihrer Nennonkel und -tante verbrachten Schulferien hatte sie sich immer schon besonders für die Aufzucht und Hege von Federvieh interessiert. Diese Vorliebe brachte sie auch bald dazu, hauptsächlich im großen Hühnerstall des Kibutz, dem Lul, beschäftigt zu werden. In der La Pazer Jüdischen Primärschule, die sie sechs Jahre lang besuchte, hatte sie im einschlägigen Religionsunterricht eine solide Grundlage der alttestamentarischen hebräischen Sprache mitbekommen, die es ihr jetzt ziemlich erleichterte, sich rasch der neujüdischen Sprache, dem Iwrith, zu bemächtigen. Es dauerte dann auch nicht lange, bis sie bei der Kibutzleitung den Antrag stellte, Geflügelzucht wissenschaftlich zu studieren, wie ihre „Tante“ Frauke ihr in deren Nachlassbrief ans Herz gelegt hatte. Der Kibutz war erst kurz vor der Staatsgründung Israels von den aus mehreren südamerikanischen Ländern eingewanderten jungen Chalutzim3 gegründet worden und deshalb auch noch nicht besonders wohlhabend. Wegen seiner risikoreichen Grenzlage wurde er zudem von der syrischen Seite aus häufiger von marodierenden Eindringlingen heimgesucht und man stand deswegen stets in angespannter Wachsamkeit bereit. Dennoch rechnete man sich gute Zugewinnmöglichkeiten durch eine Erweiterung der Eier- und Geflügelwirtschaft aus und beschloss, neben Lissy auch ihren Mitarbeiter Iakov an eine spezialisierte Ausbildungsstelle zu entsenden und die dadurch entstehenden Kosten zu tragen. Mit ihrem Freund Ruben Masal, den Lissy noch aus ihrer La Pazer Zeit so gut kannte, weil er in der Bäckerei ihres Vaters gelernt und danach dort als tüchtiger Geselle gearbeitet hatte, war sie erst vor einigen Wochen eine engere Beziehung eingegangen. Ruben war deshalb auch überhaupt nicht begeistert von ihrer ganzwöchentlichen Abwesenheit im Internat, die sich voraussichtlich über die nächsten zwei Jahre erstrecken würde. Sie konnten sich ab jetzt nur an den Wochenenden sehen. Mit großem Eifer widmeten sich alsdann die beiden Ausgewählten ihrem Studium an der Landwirtschaftlichen Ruppin-Akademie in Hefer nordöstlich von Netanya, zwischen Tel Aviv und Haifa gelegen. Lissy war natürlich durch ihr Abitur im Vorteil und konnte ihrem Kollegen in den Fächern Mathematik, Chemie, Physik, Biologie und Englisch erfolgreich unter die Arme greifen. Bei der besonderen Ernährungslehre und den im zweiten Studienjahr schwerpunktmäßig gelehrten Fächern Tierheilkunde und Anatomie sowie Futterlehre traf sie aber ebenso auf Neuland wie Iakov. Dieser revanchierte sich jedoch, indem er anfänglich manche bei Lissy noch vorhandene Sprachlücke überbrückte, denn das Studium stellte nicht alltägliche Forderungen an die Eleven.

      Liliths – wie Lissys neuer hebräischer Name in Israel lautete – Liebesbeziehung zu Ruben blieb nicht lange ohne Folgen und so brachte sie ihren Sohn fast gleichzeitig mit der erfolgreichen Beendigung des Studiums zur Welt. Beide hatten anlässlich der Anwesenheit eines Rabbi im Kibutz noch vor der Geburt geheiratet und durften nun gemeinsam mit dem Neugeborenen von den bisherigen Junggesellen-Schlafgemächern in ihren bescheidenen Shikun – eine kleine Behausung für Ehepaare – umziehen.

      Zur Erinnerung an Lissys so sehr verehrten Großvater Hans-Peter von Steinberg gaben sie dem Jungen den Namen Hanan-Peres, damit wenigstens die Anfangsbuchstaben übereinstimmten. Kurz nach der Geburt und dem Einzug in ihr neues Zuhause konnten sich beide Eltern wieder ihren Aufgaben – Ruben in der Bäckerei, Lilith mit ihren Hühnern – voll widmen. Ebenso wie alle anderen Neugeborenen im Kibutz umsorgten tagsüber geschulte Kleinkinderbetreuerinnen ihren Sprössling im Hort. Gemeinsam mit ihrem Fachkollegen Iakov und einigen weiteren Kameraden machte Lilith den Ausbau des Luls zu ihrer Lebensaufgabe. Die Stallungen wurden erweitert und den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst. Allerdings hatte man sich gleich zu Beginn für eine artgerechte Bodenhaltung der Tiere entschieden, anstatt sie in jene engen Legebatterien zu pferchen, die gerade damals überall als State of the Art in Mode gekommen waren. Lilith sah ihre Schützlinge immer noch eher als Geschöpfe und nicht nur als nackte Brathändelspießkost oder Eierlegemaschinen an. Dennoch war ihre Arbeit und die des Teams erfolgreich, und schon bald konnte das landwirtschaftliche Gemeinschaftsunternehmen einen guten Gewinn aus der Hühnerzucht und der Eierproduktion erwirtschaften.

      Alles wäre so schön gewesen, wäre da nicht immer wieder zwischendurch die grausame Gegenwärtigkeit des Krieges aufgetaucht. Seit der Staatsgründung war Israel der Bedrohung durch die umliegenden feindlichen Nachbarn ausgesetzt, zu der sich nun auch der Terror der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO unter Jassir Arafat summierte. Die während des Befreiungskrieges teils geflüchteten, teils verjagten Araber hatten zwar in den umliegenden Ländern ungeliebte Zuflucht, aber keinerlei Integration oder gar eine neue Heimat gefunden. Sie wurden von deren Regierenden wohlweislich in elenden Flüchtlingscamps zusammengedrängt und lebten dort unter sehr prekären Bedingungen – eine probate Methode, um ihren Hass auf Israel zu wahren und weiter zu schüren. Neben den immer wieder vorkommenden militärischen Kriegsscharmützel, die meist von der israelischen Armee erfolgreich abgewehrt werden konnten, waren es die oft vorkommenden Kommandoaktionen von PLO-Attentätern, die alle Grenz-Kibutzim und -städte zur kontinuierlichen und erhöhten Wachsamkeit zwangen. Auch Halonim befand sich in einer dieser unmittelbaren Gefahrenzonen und blieb nicht von solchen hinterhältigen Attacken verschont, die von meist im Schutz der Dunkelheit heranrobbenden, mordlüsternen Tätern durchgeführt wurden.

      Ständig waren deswegen Wachen an den strategisch relevanten Posten aufgestellt und inspizierten aufmerksam das umliegende Gelände. Dennoch geschah es eines Tages, dass es einem dieser Täter gelang, sich während der sengenden Mittagshitze unbemerkt bis in die Nähe des Kinderhorts heranzuschleichen

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