Im Bann der bitteren Blätter. Manfred Eisner

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Im Bann der bitteren Blätter - Manfred Eisner

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ihrem Körper die Granatenexplosion von den Kindern abzuschirmen, die andere Granate explodierte jedoch ungehindert im Raum und verursachte ein Massaker: Sieben Kinder, darunter auch der gerade einjährige Hanan-Peres Masal, waren auf der Stelle tot, vierzehn andere teils schwer verwundet. Leider eine halbe Minute zu spät entdeckte man den Attentäter vom Wachturm aus und tötete ihn mit gezielten Schüssen. Der Schock traf die ganze Gemeinschaft zutiefst. Mit einem Schlag hatte der Mörder fast zwei Drittel der Kibutz-Nachkommenschaft vernichtet oder schwer verletzt. Untröstlich die Eltern der Getöteten, schwer traumatisiert jene der Verletzten. Verständliche Rachegefühle wurden geweckt. Während eines nächtlichen bewaffneten Überfalls auf ein unweit gelegenes syrisches Dorf auf dem Golan, in dem sich auch ein PLO-Stützpunkt versteckte, gelang es, fünf weitere dieser Terroristen unschädlich zu machen. Aber auch dies konnte das junge verblutete Leben nicht wiederbringen. Lilith musste drei Monate in einem Nervensanatorium verbringen, um über ihre schwere Depression hinwegzukommen. Als begleitende Therapie begann sie wieder mit dem Flötenspielen, das ihr schon damals in Bolivien und danach auch in ihrer Hamburger Gymnasialzeit so viel Freude bereitet hatte. Das geliebte Instrument hatte sie zwar während ihrer Auswanderung nach Israel begleitet, doch sie war seitdem nicht dazu gekommen, ihr vormals so geschätztes Hobby weiter zu betreiben.

      Erst allmählich schwand der tiefe Schmerz beider Eltern über den grausamen Verlust und es stellte sich mit dem Ablauf der Jahre wieder ein gewissermaßen normaler Alltag ein. Als dann 1972 Lilith schon fast 38 Jahre alt war, schenkte sie Ruben eine Tochter, die sie Nili nannten. Bald danach schlug bei den Masals abermals und unerbittlich das grausame Schicksal zu: Israel war nach den vergangenen, für sie erfolgreich beendeten Kriegen bedauerlicherweise gegenüber den Arabern zu hochmütig geworden und wog sich in einer fatalen, falschen Sicherheit. Während des Jom-Kippur-Krieges im Herbst 1973, der den Staat für einen Moment an den Rand des Untergangs brachte, fiel Ruben bei einem der schweren Artillerie-Angriffe der Syrer, die danach trachteten, ihre im Sechstagekrieg von 1967 eingebüßten Golanhöhen zurückzuerobern. Der simultan ausgeführte ägyptisch-syrische Überfall, der gerade am heiligsten jüdischen Feiertag begann, wurde nach tagelangen Kämpfen im Sinai und am Golan mit äußerst hohem und bitterem Blutzoll zurückgeschlagen und endete dann allerdings abermals mit der militärischen Niederlage der hinterlistigen Angreifer. Der Kibutz Halonim jedoch wurde schwer getroffen, Liliths langjähriges Aufbauwerk, ihre Hühnerstallungen im Lul, Opfer der feindlichen Granateneinschläge. Ihr Bruder Oliver holte kurz danach seine abermals traumatisierte und nun verwitwete Schwester samt der gerade einjährigen Nili zu sich nach Oldenmoor, wo sie von da an verblieben.

       ***

      Abrupt werden Nilis Reminiszenzen bei der Einfahrt des Mercedes in die Ankunft-Parkgarage am Fuhlsbütteler Flughafen unterbrochen. Da die Ankunftstafel eine zwanzigminütige Verspätung der Lufthansamaschine aus Frankfurt meldet, lädt Melanie Nili zu einer Tasse Kaffee an der kleinen Bar in der Ankunftshalle ein.

      „Wie soll ich es ihnen nur beibringen?“ Melanie bricht verzweifelt in Tränen aus.

      Nili legt einen Arm um sie. „Mach dir keinen Kopf, Melanie, überlasse es einfach deiner momentanen Eingebung. So etwas lässt sich nicht planen, es ergibt sich von selbst.“ Jedenfalls eilt Nili rasch voran, als das Ehepaar Westphal an der Ausganstür erscheint, und kann gerade noch Antje Westphal unter die Arme greifen, als diese beim Anblick der schluchzenden Melanie in den Armen des Vaters instinktiv das geschehene Unglück erahnt und sie die Kräfte verlassen.

      Nachdem das erheblich mitgenommene Ehepaar sich ein wenig vom ersten Schock erholen konnte, fahren sie zurück nach Kiel. Nili lenkt den Wagen, neben ihr sitzt der mit steinerner Miene vorausstierende Vater. Im Fond hält Melanie tröstend ihre weinende Stiefmutter in den Armen. Nili berichtet ihnen in knappen Worten, was sich bezüglich Ralph zugetragen hat, und auch ein wenig von dem, was die bisherigen Ermittlungen ergeben haben. Nachdem sie den Wagen in der Kieler Garage der Westphals abgestellt hat, verabschiedet sie sich. „Nein, du brauchst mich nicht zurückzufahren, Melanie, ich komme schon zurecht. Du solltest jetzt vielmehr bei deinen Eltern bleiben, das ist wichtiger!“

      Der halbstündige Fußweg bis zur Bezirkskriminalinspektion in der Blumenstraße tut ihr gut, um ein wenig von der Anspannung der letzten Stunden herunterzukommen. In all den Jahren als Polizistin konnte sie immer noch nicht jenes tiefe Mitleid von sich abschütteln, das sie stets gegenüber den von schlimmen Schicksalsschlägen betroffenen Hinterbliebenen empfindet. Wie leichtfüßig raten ihr immer wieder Psychologen und seelische Betreuer bei solchen Geschehnissen, sie solle möglichst Distanz zu den Opfern wahren und sich mit deren Leid nicht allzu sehr identifizieren. „Leicht gesagt, aber überwinden Sie zunächst einmal selbst die eigenen Gefühle nach dem herben Verlust des ermordeten kleinen Bruders, den ich nie kennenlernen konnte, und des geliebten, von feindlichen Granaten getöteten Vaters!“ Gerade als Nili das massive Backsteinpolizeigebäude betreten will, kommen ihr die Kollegen, die Oberkommissare Steffi Hink und Sascha Breiholz, entgegen.

      „Mensch, Nili, was machst du hier? Wolltest du uns besuchen?“

      Sie kennen sich von früheren gelegentlichen Zusammentreffen und Fortbildungskursen. Einige Male haben sie auch schon wirksam bei der Bildung von ortsübergreifenden Soko-Einsätzen zusammengearbeitet. Nachdem Nili von der Ankunft des Ehepaars Westphal berichtet hat, fragt sie, ob sich inzwischen in dem Fall etwa Neues ergeben hat.

      „Du kommst gerade richtig, wir sind auf dem Weg zum Pathologen im Institut für Rechtsmedizin der Universität Kiel. Professor Klamm rief soeben an, er hat den Bericht fertig. Möchtest du uns begleiten? Dann erfährst du alles aus erster Hand.“

      Prof. Dr. Christoff Klamm, ein noch jugendlich wirkender Mittvierziger, begrüßt sie im grünen Kittel an der Tür zum Obduktionssaal. Vier vollständig zugedeckte Leichenkörper liegen auf den rostfrei-stählernen Seziertischen unter Leinentüchern, ein jeder mit einem Identifikationsetikett, das am großen Zeh von einem Band herunterhängt. Nili kann den kalten Schauer, der ihr den Rücken herunterfährt, nicht unterdrücken. Er befällt sie immer wieder beim Betreten solch makabrer Stätten.

      „Ralph Westphal, männlich, Alter 25 Jahre, Statur 1 Meter, 80 Zentimeter, Gewicht 79 Kilogramm.“ Der Professor deckt das Tuch über dem Kopf der Leiche auf. Ralphs Gesichtszüge zeigen eine leichte Anspannung. Als ob er einen starken Schmerz empfände, denkt Nili. „Der Tod trat am vorigen Sonnabend gegen Mittag ein. Er wurde verursacht von einem akuten Herzinfarkt als unmittelbare Folge einer überstarken Dosis Kokain, die der Betroffene sich selbst kurz davor durch die Nase zugeführt hat. Da er sich dazu eigens in einer Toilette eingeschlossen hatte, ist Fremdeinwirkung auszuschließen. Das ist das Ergebnis der ebenfalls durchgeführten forensischen toxikologischen Untersuchung. Kokain ist bei Weitem tückischer, als viele glauben. Es ist sogar eine sehr gefährliche Droge, die nicht nur innerhalb kürzester Zeit zur Abhängigkeit führt, sondern lebensbedrohliche Schäden am Herzen verursachen kann. Der Verstorbene galt zwar als von seiner vormaligen Kokainsucht geheilt, hatte sich aber als deren Folge bereits eine Angina Pectoris, also eine Herzmuskelschwäche, zugezogen. Deswegen wurde ihm der Konsum dieses Mal zum Verhängnis. Aufgrund der plötzlichen Zufuhr des starken Gifts verkrampften sich die geschwächten Herzgefäße schlagartig und der akute Sauerstoffmangel verursachte schließlich den Herzstillstand. Es ist bedauerlich, dass nur sehr wenige Kokainschnupfer über die Gefährlichkeit ihres leichtsinnigen Tuns Bescheid wissen. Koksen gilt ja sogar bis in die hohen gesellschaftlichen Kreise als ungemein schick!“ Nach einer Pause setzt Prof. Dr. Klamm hinzu: „Übrigens, was bei der toxikologischen Untersuchung besonders auffiel, war die ungewöhnliche Reinheit des Stoffes. Entgegen des üblicherweise für den Konsum mit anderen Zutaten wie Puderzucker oder Stärke gestreckten Pulvers, das dann nur etwa 34 bis 36 Prozent der Droge enthält, handelt es sich bei den neben der Leiche gefundenen Spuren und geringfügigen Restmengen seltsamerweise um 95-prozentig reines Kokain. Dies bewirkte wohl auch das fast sofortige Auslösen des Herzinfarktes.“

      „Könnte man aus diesem doch nicht alltäglichen Drogenbefund vielleicht den Verdacht auf eine arglistig

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