Im Bann der bitteren Blätter. Manfred Eisner
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„Überraschung! Wird nicht verraten!“
Wenig später sitzen die drei Generationen gemeinsam am Esszimmertisch und verspeisen genüsslich einige der heiß duftenden Humintas, die Clarissa aus dem Backofen gezaubert hat. Die beliebten Kuchen aus Maisbrei und Frischkäse, in Deckblätter von Maiskolben gewickelt und gebacken – das Rezept hat Clarissa aus Bolivien mitgebracht –, sind ein immer wieder willkommener Menüklassiker des Hauses.
„Als ich heute beim Einkaufen im Rewe-Markt die verlockend frischen Maiskolben in ihre grünen Chalas eingewickelt sah, konnte ich nicht an mich halten. Ich musste an unsere liebe Köchin Panchita denken, die uns doch so oft mit dieser Köstlichkeit verwöhnt hat. Erinnerst du dich noch, Lissy? Was wohl aus ihr und unserer schönen Villa in Sopocachi geworden sein mag?“ Es folgt ein tiefer Seufzer.
„Lass man, Mami, wollen wir hoffen, es geht ihr gut, ja?“
Sehr oft, vor allem seit sie ihren geliebten Ehemann Heiko, den sie alle den Deichkater genannt hatten, vor einigen Jahren verlor, schwelgt Clarissa meist in ihren Erinnerungen. Viel Zeit verbringt sie neuerdings beim Lesen ihrer ihr so teuren Tagebücher, inzwischen etwa dreißig an der Zahl, in denen sie akkurat die Geschehnisse und die intimsten Gedanken seit ihrer frühen Jugend festgehalten hat.
„Heute hatten wir einen ziemlich schaurigen Einsatztag“, bemerkt Nili, um ihre Omi von ihrem trübseligen Nachsinnen abzulenken. Sie skizziert in groben Umrissen, was auf dem weit abgelegenen Bauernhof vorgefallen ist. Ihre beiden Zuhörerinnen sind entsetzt. „Wie furchtbar, die armen Frauen! Wer tut nur so etwas?“
Nili wälzt sich unruhig von der einen zur anderen Seite. Während der gesamten Nacht hat sie schlimme Träume gehabt und immer wieder kommen ihr die verkohlten Leichen in den Sinn. Eigentlich ist ja heute Samstag, sie könnte doch länger schlafen. Sie schaut zum Wecker: sieben Uhr! Dennoch beschließt sie aufzustehen, geht ins Badezimmer, putzt sich die Zähne. Nach einer kurzen Katzenwäsche fasst sie die Haare mit einem Gummiband zum Pferdeschwanz zusammen und schlüpft in ihren Jogginganzug. Als sie ihre Laufschuhe angezogen hat, schleicht sie sich leise aus der Haustür und trottet die noch menschenleere Straße entlang. Die frische Morgenluft tut ihr gut und die körperliche Anstrengung vertreibt schon bald den finsteren Nachtnebel aus ihren Gedanken. Nach etwa einer Viertelstunde erreicht sie eine der Landstraßen, die aus Oldenmoor hinausführen, und läuft gleichmäßig auf dem Fahrradweg neben der zu dieser frühen Morgenstunde fast unbefahrenen Autostraße. Als sie an der Auffahrt zum Holstenhof angelangt ist, biegt sie in diese ein, verlangsamt das Lauftempo und macht gleichzeitig tiefe Atemübungen mit weit kreisenden Armen. Kurz bevor sie an das Haus kommt, öffnet sich die Tür und ihr Onkel Oliver, der Bruder ihrer Mutter, kommt ihr mit einem freudigen Lächeln entgegen. „Hola, Nili, que sorpresa tan linda“, begrüßt er sie. „Welch schöne Überraschung schon zu so früher Stunde! Du kommst gerade recht zum Frühstück!“
„Hi, Onkel Oliver, prima! Darf ich aber erst einmal kurz unter die Dusche, ich bin total verschwitzt!“
Wenig später sitzt die Großfamilie in der geräumigen Wohnküche. Das sind zum einen der mit seinen siebenundsiebzig Jahren noch sehr kernig erscheinende Onkel und seine daneben sitzende Gattin, Tante Emma-Martha – auch Madde genannt. Sie ist, ebenso wie Nilis Mutter Lissy, zwei Jahre jünger als er, im Gegensatz zu Lissy allerdings ziemlich korpulent. Zum anderen sind das zwei ihrer drei Kinder: Hans-Peter und der Nachkömmling Oskar, den Onkel Oliver spaßig als seinen „selbstgemachten Enkel“ bezeichnet. Die Tochter, Annette, ist schon vor Jahren ausgezogen und wohnt in Berlin. Nilis Onkel Oliver hat sich vor zwei Jahren auf das Altenteil zurückgezogen. Sein ältester Sohn Hans-Peter, der ihm sehr ähnlich sieht, bewirtschaftet seitdem den Holstenhof zusammen mit seiner Ehefrau Corinna. Auch sie haben drei Kinder: Steffan, Carola und Sophie. Natürlich sind alle mächtig stolz auf ihre Nichte-Cousine-Großcousine Nili, die ja so einen spannenden Beruf hat.
Oliver schneidet gerade eines der von Corinna im Backrohr aufgekrossten Brötchen auf. „Mensch Meyer, was sind dies doch für armselige Krüppel! Kein Vergleich mit unseren frischen Brötchen aus Opas Backwarenfabrik!“
„Aber wenigstens unsere eigene Butter und Käse und Oma Clarissas selbst eingekochte Erdbeermarmelade schmecken doch prima darauf, oder?“, kontert Emma-Martha lächelnd.
„Hast ja recht, Madde, dennoch, ich vermisse sie eben! Es tut mir so leid, dass mein Vater seine Backwarenfabrik wider Willen abgeben musste. Ich glaube, das hat ihn auch vorzeitig zu Tode gequält. Sonst war er doch noch fit.“
„Und da sind ja auch die leckeren Eier von Tante Lissys Hühnerhof“, kolportiert der jüngere Oskar, der gerade eines davon geköpft hat und genüsslich den knallgelben Dotterrest von seinem Messer abschleckt.
Nili greift in die Tasche ihrer Jogginghose und holt das dumpf brummende Handy hervor. „Entschuldigt, es ist Lissy!“, sagt sie, steht auf und geht zur Küchentür. „Boker tov, Ima!“, sagt sie – Guten Morgen, Mutter. Dann geht es auf Iwrith weiter. „Ja, ich bin bis zum Holstenhof gejoggt, wir sitzen alle am Frühstückstisch.“ Sie wendet sich der Gesellschaft zu: „Mutter umarmt euch alle!“
„Sag ihr, sie soll Oma Clarissa zum Mittagessen mitbringen, wir haben heute reichlich frisch gebratene Kalbsleber mit vielen Äpfeln, roten Zwiebeln und Kartoffelmus“, schlägt Madde vor.
Und Oliver meint vielsagend dazu: „Sie braucht keine Angst zu haben, es gibt davor auch ganz sicher kein Lungenhaschee!“
Schmunzelnd gibt Nili die Information weiter. „Also gut, dann bis um zwölf, wie bi de Buurn gang un geev is! Und bring mir bitte frische Unterwäsche mit! Bis dann, großer Kuss! Wiedersehen!“
„Opa, was sollte das mit dem Lungenhaschee?“, fragt Carola neugierig. „Ach, liebes Kind, das ist ’ne längere Geschichte. Als Lissy und ich noch Kinder waren und auf dem Landgut Guayrapata in Bolivien, von dem ich ja schon so oft erzählt habe, unsere Schulferien verbrachten, wurde auch ab und zu eines der Kälber geschlachtet. An einem solchen Tag gab es unweigerlich das uns verhasste Lungenhaschee, eine Speise, die ihr gottlob nicht kennt – da habt ihr auch wirklich nichts versäumt! Jedenfalls mussten wir immer erst diesen ekligen Brei verdrücken, denn sonst gab es keine gebratene Leber, die wir doch so sehr mochten.“
Als alle satt sind, erhebt sich allmählich einer nach dem anderen vom Frühstückstisch, ein jeder hilft ein wenig beim Abräumen. Oliver und Nili bleiben mit ihren noch halb vollen Kaffeebechern sitzen.
„Und? Alles in Ordnung auf dem Holstenhof?“, fragt Nili.
„Ach ja, eigentlich schon. Die Milchquoten, die uns aus Brüssel vorgeschrieben werden, machen uns allerdings zu schaffen. Wir haben deshalb vor einem halben Jahr angefangen, die Überschüsse, die uns die Meierei nicht abnimmt, selbst zu verarbeiten und hier im Umkreis direkt zu vermarkten. Klappt eigentlich bestens, denn es hat sich rasch herumgesprochen, und Stefan und Carola wollen hier bald ihren eigenen Hofladen eröffnen, wir bauen dafür gerade eine der beiden Scheunen an der Auffahrt entsprechend um.“
Nili nickt zustimmend. „Finde ich ’ne prima Idee, Milch frisch von der Kuh direkt an den Verbraucher!“
„Na ja, ebenso Sahne, Butter, Frischkäse und Quark.“
„Und auch die frischen Eier aus der Bodenhaltung von Lissys Eulenhof könntet ihr verkaufen!“
So schwelgen sie eine Weile in ihren Plänen.
Plötzlich stürmt Oskar in die Wohnküche. Er hält ihnen seinen aufgeklappten Laptop hin. „Seht mal, hier ist die Nili auf der ersten Seite