1918. Johannes Sachslehner
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Gegen 6 Uhr 15 werden sich endlich die Türen öffen. Zu viert, so wie sie angestellt sind, werden sie auch eingelassen. In einer knappen Stunde werden die Vorräte weg sein, und an der Tür wird der ominöse Zettel Ausverkauft erscheinen. Aber zahlreiche Menschen werden noch dastehen und haben weder Brot noch Mehl bekommen – für sie gilt es auszuharren, auf die nächste Nacht und den nächsten Morgen zu hoffen, auf die nächste Warteschlange …
Freilich gibt es auch viele Menschen in Wien, die sich ihr Brot nicht selbst „organisieren“ müssen, die auch ohne „Brotkarte“ kaum Mangel leiden. Der Krieg lässt nun die Gegensätze zwischen Notleidenden und Wohlhabenden immer deutlicher hervortreten, er lässt Neid und Missgunst wachsen, den Hass auf jene, denen es besser geht oder von denen man glaubt, dass es ihnen besser geht …
3 UHR
Monte Pertica im Grappa-Massiv. Nach drei schlaflosen Nächten haben die Überlebenden des Kärntner Infanterieregiments Graf von Khevenhüller Nr. 7 endlich etwas Ruhe gefunden. Der Wahnsinns-Angriff zur Rückeroberung des verlorenen Gipfels, eines der am heftigsten umkämpften im Umfeld des Monte Grappa, hat am 27. Oktober in einem Blutbad geendet: 862 Mann und 35 Offiziere sind tot, nur etwa 400 haben das Gemetzel überlebt. Da im so genannten „Südlager“ alle Kavernen besetzt sind, bleibt dem letzten Häuflein getreuer Khevenhüller nichts anderes übrig, als sich aufzuteilen und bei den Kameraden von anderen Einheiten Unterschlupf zu suchen. Ein Ausharren in ungeschützter Stellung wäre tödlich: Vor allem die eigene Artillerie ist es, die immer wieder Opfer fordert. Vergeblich bemüht sich Hauptmann Dr. Norbert Assam dies zu ändern – das Abschießen grüner Leuchtraketen hilft ebenso wenig wie das Toben am Telephon. Vierzehn Verwundete werden an diesem Tag zu beklagen sein, am 29. jedoch 70 Tote: Das verlustreiche Kurzfeuer der Vortage steigerte sich zeitweise geradezu zum Trommelfeuer. Mit gellendem Krachen barsten schwere, tempierte Granaten über dem Südlager, haushoch stieg die Erde empor beim Einschlagen schwerer Geschosse. Maschinengewehre gingen in Trümmer, die restlichen Infanteriegeschütze wurden zerschlagen, wachsbleich mit zerspellter Stirn lagen Tote überall umher und vermehrten die Anzahl derer, die längs des Weges zum Nordlager in langen Reihen geschlichtet lagen wie Brennholz …
Schuss um Schuss auf die feindlichen Linien: österreichische Geschützstellung in einer Kaverne.
3 UHR 50
Bes, Südtirol, Regimentskommando des 4. bosnisch-herzegowinischen Infanterieregiments. Die seit dem 23. Oktober auftretenden Gehorsamsverweigerungen bei der bosniakischen Elitetruppe in der Südtiroler Etappe lassen sich nicht mehr, wie vom Heeresgruppenkommando in Belluno gewünscht, intensivst disziplinieren. Die Männer mit dem Fez, deren außergewöhnliche Tapferkeit im Kampf sprichwörtlich ist, sind seit der Verlautbarung des kaiserlichen „Völkermanifests“ vom 16. Oktober wie ausgewechselt. Sie klagen darüber, dass der Kaiser sie mit dieser Erklärung an die Ungarn ausgeliefert habe, allen anderen Völkern der Monarchie sei ihr Recht geworden, nur den Bosniern nicht. Ihre Zukunft sei damit völlig ungewiss, dazu komme, dass die Unterhaltsbeiträge an ihre Familien nur schleppend ausbezahlt würden, auf ihren Höfen werde alles requiriert, was nur irgendwie verwertbar sei; ohne Männer würden die Felder verkommen. Nicht zuletzt sei auch die Verpflegung bei weitem unzureichend, ihre Uniformen zerrissen und zerfetzt. Sollten sie nun an der Front fallen, so wären ihre Familien dem sicheren Untergang geweiht.
Hauptmann Gyebic trifft beim Regimentskommando in Bes zur vereinbarten Situationsmeldung ein und berichtet, dass es weiterhin unmöglich sei, die Meuterer, die zwischen Cugnach und Carmegn versammelt seien, zur Einsicht zu bewegen. Sie seien entschlossen nicht mehr in Stellung zu gehen und sie würden auch nicht zulassen, dass einzelne Einheiten des Regiments zum Straßenbau abgetrennt würden. In ein bis zwei Tagen, so ihre klare Forderung, möchte man in die Heimat abtransportiert werden. Oberst Leo Kuchynka, der Kommandant der Truppe, ist ratlos. Er glaubt, dass die Rebellion von langer Hand vorbereitet ist. Da die Meuterer, an ihrer Spitze das 1. Bataillon, sehr geschickt als geschlossenes Kollektiv vorgehen und sich keine Rädelsführer ausmachen lassen, ist es ihm jedoch unmöglich, gegen einzelne Personen vorzugehen. An eine Entwaffnung der Bosniaken ist nicht zu denken, es bleibt dem Obersten nichts anderes übrig, als das Heeresgruppenkommando in Belluno um Hilfe zu bitten – so genannte „Assistenztruppen“ werden angefordert, womöglich auch Artillerie …
4 UHR
An der Piavefront. Ernste disziplinäre Probleme auch bei der 20. Brigade im Kampfverband der 10. Infanteriedivision. Das tschechische Infanterieregiment Nr. 21 weigert sich geschlossen zum geplanten Gegenstoß anzutreten, die dem Regiment zugeteilten „deutschen“ Offiziere werden von der Mannschaft in einem Kirchhof eingeschlossen. Falls man sie nach Hause marschieren lasse, so erklären die Soldaten, würden sie weiter nichts unternehmen. Vergeblich versuchen die Kommandanten die Meuterer von ihrem Vorhaben abzubringen; schließlich lässt man das Regiment abmarschieren, um im Rücken der schwer kämpfenden Truppen Ordnung zu halten, wie Hauptmann Oskar Regele später erklärt. Die 10. Infanteriedivision, auf dem Papier der Generalstäbler eine kampfkräftige „Eingreifdivision“, bietet ein trauriges Bild: große Abgänge an Malaria, schlecht verpflegte Soldaten, jedes Regiment besteht eigentlich nur mehr aus einem Bataillon, von der Artillerie ist kaum mehr als die Hälfte bespannt und bemannt, die Geschütze hat man in so genannten „Rücklaufgruppen“ hinter der Front gesammelt – ein Angriff auf die vorrückenden Alliierten ist in dieser Verfassung Utopie, was bleibt ist der Rückzug zum Monticano und weiter zum Tagliamento.
Inzwischen gehen Teile der italienischen 56. Division unter dem Kommando von General Vigliani und der italienischen 33. Division, befehligt von General Sanna, beide Einheiten zum XXIII. italienischen Korps zählend, im Bereich des XIV. Korps über den Piave und besetzen den Frontabschnitt von C. la Sega bis C. Tonon.
4 UHR 22
Bahnhof der nordwestkroatischen Grenzstadt Koprivnica an der Strecke Budapest – Zagreb. Der Personenzug aus Budapest fährt pünktlich ein. Auf dem ansonsten einsamen und nur schwach beleuchteten Bahnsteig wartet schweigend eine Schar seltsam gekleideter bärtiger Männer, die sich in kleine Gruppen geteilt hat und nun rasch in die Waggons steigt: eine mit Bajonetten bewaffnete Bande von Deserteuren, die während der Weiterfahrt des Zugs Richtung Süden in aller Ruhe mit dem Ausrauben der Fahrgäste beginnt. Das ungarische Zugpersonal ist machtlos; wer Widerstand leistet, wird von den ehemaligen Soldaten der kaiserlichen Armee brutal zusammengeschlagen; die Deserteure raffen zusammen, was sie nur kriegen können: Bargeld, Uhren, Schmuck und selbst die Kleider ihrer Opfer werden in die mitgebrachten Säcke gestopft. Alles ist exakt geplant: Erst unmittelbar vor Zagreb wird die Bande mit ihrer Beute den Zug verlassen, Verfolgung durch Militär oder Polizei hat sie nicht zu befürchten, aus Angst vor den Deserteuren ist das Bahnpersonal in den meisten Stationen bereits geflüchtet; ungehindert konnten so am Vortag auf der Strecke Zagreb – Brod an der Save 150 Waggons geplündert werden. Da die Bahnen ungarisches Staatseigentum sind, sind sie ein bevorzugtes Ziel der meist antimagyarisch eingestellten Deserteure.
Zur gleichen Zeit im Bahnknotenpunkt Našice in der slawonischen Gespanschaft Osijek-Baranja: An die 700 meuternde Soldaten vom dalmatinischen Schützenregiment Nr. 23 halten seit dem Nachmittag des 27. Oktober die Stadt besetzt, seit 18 Uhr toben in den Straßen blutige Auseinandersetzungen. Bürgermeister und Stationskommandant haben alles versucht, um es nicht zu dieser Orgie der Gewalt kommen zu lassen: Man hat die Soldaten mit einem ausgiebigen Essen bewirtet, hat ihnen ein sicheres Quartier versprochen und sogar einen eigenen Zug, der sie nach