Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung. Thomas Gächter
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Urteil
AccolaIm Urteil Accola gegen Suva vom 15. Dezember 1936 erwog das EVG, zur Ermittlung der Erwerbsunfähigkeit eines Versicherten sei abzustellen auf das Verhältnis zwischen dem, was der Versicherte ohne Unfall hätte erwerben können, und dem, was er, mit den Unfallfolgen behaftet, auf dem Arbeitsmarkt voraussichtlich erwerben kann.[9] Da der Versicherte im Urteil Accola zur Zeit des Unfalls in einem anderen Beruf als seinem erlernten arbeitete, verwies das EVG darauf, dass zwar eine Vermutung bestehe, dass die letzte Tätigkeit eines Versicherten auch die zukünftige gewesen wäre. Diese Vermutung könne aber «leicht entfallen, wenn sich ergiebt, dass der Versicherte eigentlich einen andern Beruf hatte und diesen nur unter dem Zwang der Verhältnisse, wie Wirtschaftskrise u. dgl., vorübergehend verlassen hat».[10] Damit löste sich das EVG zur Ermittlung des Valideneinkommens von den aktuellen konjunkturellen Verhältnissen.[11]
Interdisziplinäre AbklärungEbenfalls bereits im Urteil Accola hielt das EVG fest, «die Ermittlung des Invaliditätsgrades [darf] sich keineswegs in einer Vergleichung des gegebenen anatomisch-funktionellen Zustandes mit dem Zustand der Unversehrtheit, bzw. mit einem Durchschnittstypus berufliche Anforderungen, erschöpfen (…) Weil aber eben noch die speziellen für den Verletzten in Betracht fallenden beruflichen Bedingungen zu berücksichtigen sind, kann – was übrigens ebenfalls schon oft betont wurde – die Invaliditätsschätzung nicht allein Sache des Mediziners sein».[12]
Urteil ArfiniIm Urteil Arfini gegen Suva vom 20. Dezember 1940 nahm das EVG die Erwägungen des Urteils Accola auf und führte zum Valideneinkommen aus, es sei «naturgemäss» auf den Beruf des Versicherten abzustellen. «Als mutmasslicher Ertrag dieses Berufes hat dessen durchschnittliche, d.h. von momentanen Zufälligkeiten (wie z.B. Betriebseinstellung oder -einschränkung, oder umgekehrt Hochkonjunktur), unabhängige Entlöhnung zu gelten.»[13] Zum Invalideneinkommen erwog das EVG, der Versicherte müsse sich diejenige Art der Erwerbsbetätigung anrechnen lassen, welche seinem verwertbaren Können entspreche und womit er auf dem Arbeitsmarkt normalerweise am meisten verdiene: Massgebend sei nicht, was für Arbeit oder wie viel Arbeit der Versicherte noch leiste, sondern wie viel, im Verhältnis zu früher, dadurch noch verdient werden könne.[14] Dazu stellte das EVG auf Durchschnittsverdienste ab und bemass die Erwerbsunfähigkeit bei einem Berufswechsel der Versicherten «aus der Differenz zwischen dem Durchschnittslohn im aufgegebenen und im neuen Beruf, und ausserdem aus der Beeinträchtigung im neuen Beruf».[15]
ZumutbarkeitGleichzeitig unterstrich das EVG im Urteil Arfini, dass «dem Versicherten nur solche neuen Erwerbstätigkeiten zugemutet werden [dürfen], die ihm angesichts seiner beruflichen Ausbildung sowie seiner physischen und intellektuellen Eignung auf dem für ihn praktisch in Betracht kommenden Arbeitsmarkt erfahrungsgemäss wirklich zugänglich sind».[16] Das EVG äusserte sich konkret zu den Verweistätigkeiten, welche die Suva dem Versicherten aufgezeigt hatte: Es handle sich dabei «teils um Funktionen öffentlicher Dienste («Briefträger, Tramangestellter») oder der Privatwirtschaft («Chauffeur, Photograph, Aufseher, Agent»), die bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzen, deren Vorhandensein beim Kläger mehr als zweifelhaft ist, (…) teils um Anstellungen («Zählerkontrolleur von Gas- und Elektrizitätswerken, Fabrikportier, Bankbote» und dergleichen), die zwar vielleicht keine besonderen manuellen Fähigkeiten erfordern, zu denen der Zugang aber auf dem für den Kläger angesichts seiner Ausbildung praktisch in Betracht kommenden Arbeitsmarkt derart selten und zufällig ist, dass sie ihm praktisch nicht offen stehen».[17]
WürdigungMit dem Urteil Arfini nahm das EVG das Anliegen des ausgeglichenen Arbeitsmarktes vorweg, indem das Gericht zum einen auf eine durchschnittliche Arbeitsmarktlage abstellte, zum anderen aber eine realistische Betrachtungsweise einforderte.[18] Anknüpfungspunkt war der Begriff der Erwerbsunfähigkeit, der von fehlender Erwerbsmöglichkeit bzw. von Erwerbslosigkeit abzugrenzen war – eine begriffliche Abgrenzung, die bis heute schwerfällt, etwa wenn das Bundesgericht die Rente der Invalidenversicherung als «Erwerbsausfall-Versicherungsleistung» bezeichnet.[19]
DurchschnittsverdienstMitte der 1950-er Jahre fasste das EVG diese Rechtsprechungslinie zur Unfallversicherung wie folgt zusammen: Die Invalidität entspreche «der Differenz zwischen dem (durchschnittlichen) Lohn, welchen der Versicherte, wäre er nicht verunfallt, verdienen könnte, und dem (durchschnittlichen) Verdienst, den er – sei es als voll, sei es als nur teilweise Arbeitsfähiger – in einem für ihn passenden neuen Beruf voraussichtlich noch zu erzielen vermag».[20] Der «Durchschnittsverdienst» war also die entscheidende Grösse. Die Expertenkommission zur Invalidenversicherung wie auch die bundesrätliche Botschaft zur Invalidenversicherung verwiesen bei den Ausführungen zur Invaliditätsbemessung auf diese Rechtsprechung.[21]
Bei Inkrafttreten des IVG
IVG-1959Mit Inkrafttreten des IVG vom 19. Juni 1959 wurde der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes im Gesetz verankert, ohne aber eine gesetzliche Definition einzuführen. Gesetzliche Grundlage bildete bis zum Erlass des ATSG Art. 28 Abs. 2 IVG-1959, der sich in die allgemeine Umschreibung des Invaliditätsbegriffs nach Art. 4 IVG-1959 einfügte:
«Für die Bemessung der Invalidität wird das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre.» (Art. 28 Abs. 2 IVG 1959)
«Als Invalidität im Sinne dieses Gesetzes gilt die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit.» (Art. 4 IVG-1959)
AbgrenzungAufschluss über den Sinn und Zweck des ausgeglichenen Arbeitsmarktes ergibt die Botschaft zur Schaffung der Invalidenversicherung von 1958, in welcher der Bundesrat unter anderem ausführte, versichertes Rechtsgut sei «die Erwerbsfähigkeit und nicht der Erwerb als solcher». Die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit sei vom tatsächlichen Erwerbsaufall bzw. der Erwerbseinbusse zu unterscheiden.[22]
Besonders zu beachten sei – so der Bundesrat –, «dass in der Invalidenversicherung nur die durch einen Gesundheitsschaden verursachte Erwerbsunfähigkeit berücksichtigt werden darf. Die durch äussere Faktoren – wie Arbeitslosigkeit – bedingte Unmöglichkeit, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, ist davon zu unterscheiden. Nur auf diese Weise wird ein objektiver, von den Schwankungen des Arbeitsmarktes und dem Verhalten des Versicherten unabhängiger Versicherungstatbestand geschaffen. Eine klare Trennung zwischen Invalidenversicherung und Arbeitslosenversicherung, wie sie in verschiedenen Vernehmlassungen gefordert wird, ist nur möglich, wenn in der Invalidenversicherung ausschliesslich darauf abgestellt wird, ob der Versicherte mit seinen geistigen und körperlichen Kräften bei normaler Arbeitsmarktlage imstande wäre, erwerbstätig zu sein.»[23]
KonjunktureinflüsseKonjunktureinflüsse («fluctuations de la conjoncture économique») seien bei der Invaliditätsbemessung grundsätzlich auszuschalten.[24] Ein «Invalider» habe zwar in Zeiten wirtschaftlicher Depression häufiger