Hannibal Mayer - Der Zug der Elefanten. Fabian Vogt
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Der lange Rüssel des Elefanten kam, schnupperte an meinem Handgelenk und streifte dabei kurz den Schnappverschluss meiner Uhr, der schon immer leicht aufgegangen war. Erschrocken riss ich die Hand in die Höhe, woraufhin meine teure Armbanduhr in hohem Bogen in das Gehege flog.
»Mama, der alte Mann bewirft den Elefanten mit seiner Uhr.«
Ich wusste nicht, worüber ich mich am meisten ärgern sollte: darüber, dass das Mädchen einen Siebenunddreißigjährigen als alten Mann bezeichnete, dass meine Uhr weg war oder dass etwa vier zig Augenpaare mich, den scheinbar ertappten Tierquäler, hasser füllt anstarrten. Ich ging wortlos davon und suchte mir am Weg einen längeren Ast, mit dem ich das wertvolle Geschenk meiner Mutter aus dem Dreck zwischen den Elefantenfüßen fischen konnte.
»Mama, der Opa will den Elefanten mit einem Stock hauen.«
Das mag lustig klingen, aber der Gesichtsausdruck des Vaters der Kleinen, der mir den Ast mit einem derartigen Ruck aus der Hand riss, dass ich eine blutige Schramme am Daumen bekam, war es nicht.
»Wenn Sie noch einmal einem Tier wehtun, prügele ich Sie windelweich. Verstanden? Was Tiere angeht, verstehe ich keinen Spaß.«
Ich wollte gerade zu einer harschen Erwiderung ansetzen, da zog mich jemand zur Seite. »Aber meine Uhr …«
»Warten Sie einfach einen Augenblick.Aruba trauert.«
Ich schaute den leicht fülligen Mann mit dem weichen Gesicht und der tiefen Stimme verständnislos an.War das ein Geheimagent? Codewort »Aruba trauert«.
»Wovon reden Sie? Wer ist Aruba? Und was wird aus meiner Uhr?«
Er hielt mir seine Hand hin und sagte freundlich: »Hannibal Mayer. Ich habe gesehen, was passiert ist. Aber so werden Sie Ihre Uhr niemals wiederbekommen. Vor allem nicht, solange diese selbstgerechten Tierschützer Sie beobachten.«
Ich erwiderte den Händedruck verwirrt. »Vogt. Fabian Vogt. Seien Sie nicht böse, aber sollte ich nicht meine Uhr retten, bevor ein Elefant drauftritt?«
»Weil Aruba trauert, braucht sie Zeit.«
»Ich will ja nicht nerven, aber wer ist Aruba?«
Er deutete wortlos auf das leicht angerostete Schild vor sich am Gatter, auf dem erläutert wurde, dass Aruba die älteste Elefantin des Zoos ist, aus Afrika stammt und 1979 das Licht der Welt erblickt hat, während ihre jüngeren Gefährtinnen,Wankie und Zimba, erst 1982 geboren wurden.
»Ach so. Und warum trauert sie?«
Er griff sich mit der Hand in seine linke, tief eingeschnittene Geheimratsecke und riss sich nachdenklich ein Haar aus. Dann erst sah er mich wieder an. »Vor zwei Wochen ist Ali, der Elefantenbulle des Zoos, bei einer Fußoperation überraschend an Herz-Kreislauf-Versagen gestorben. Deshalb trauern die Weibchen. Er war erst dreiundzwanzig und es ist ein schrecklicher Verlust für sie.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Entschuldigen Sie. Trauern. Klingt das nicht ein bisschen … menschlich?«
Nun sah mich Hannibal Mayer erstaunt an. »Nein, keineswegs. Elefanten trauern. Sehr intensiv sogar. Wie Menschen. Sie bedecken zum Beispiel verstorbene Familienmitglieder mit Zweigen, und wenn sie an einem Ort vorbeikommen, an dem ein Tier verendet ist, legen sie dort jedes Mal eine Gedenkminute ein. Vielleicht entstanden so die Mythen von den Elefantenfriedhöfen.Aber das ist noch nicht alles: Elefanten weinen sogar, wenn sie traurig sind.«
Ich lachte. »Sie übertreiben. Oder?«
»Nein, schauen Sie selbst.« Er deutete mit einem spitzen Finger auf die größte Elefantenkuh. »Schauen Sie sich ihre Augen ganz genau an. Sie weint.«
Tatsächlich. Unter den dicken Wimpern des Tieres hingen große Tropfen. Und jetzt sah ich auch die Trauer im Blick Arubas. »Ich wusste nicht, dass Elefanten so … äh, einfühlsam sind.«
»Oh ja, das sind sie. Sie sind klug und kennen wie wir alle Gefühle: Freude,Trauer,Aggression, Liebe,Angst und Leidenschaft. Und sie treten füreinander ein.Vor allem aber sind sie lernfähig. Das heißt: Elefanten sind keine Instinkttiere. Wie bei den Menschen wächst ihr Gehirn langsam und sie müssen nach ihrer Geburt fast alles von ihrer Mutter und ihren Tanten beigebracht bekommen oder es sich durch Erfahrung aneignen. Die älteren Tiere geben ihr Wissen dann wei ter - von Generation zu Generation. Und wie Sie vielleicht schon gehört oder gelesen haben: Elefanten besitzen ein sehr gutes Gedächtnis. Darum ist der Elefant in vielen Kulturen ein Symbol für Weisheit und Stärke. Er kann Pläne schmieden und sie auch um setzen.«
Ich grinste. »Sind Sie Biologe oder Tierpfleger?«
Er reagierte nicht auf mein Grinsen, sondern sagte leise, fast schüchtern: »Weder noch. Ich bin Unternehmer. Elefanten sind mein Hobby. Und was machen Sie?«
»Ich bin Journalist und Musiker - allerdings im Augenblick ein wenig frustriert.«
Ich wusste nicht, warum ich das sagte. Ich kannte den Mann ja gar nicht. Darum fügte ich schnell hinzu: »Was wird denn jetzt aus meiner Uhr?«
Hannibal Mayer schaute kurz über seine Schulter, dann winkte er mich hinter sich her. »Kommen Sie. Die aggressiven Eltern von vorhin sind weg.«
Am Zaun stellte er sich breitbeinig hin und bat die herumstehenden Familien mit einer natürlichen Autorität, das Füttern einen Moment zu unterlassen. Dann sah er der Elefantin in die Augen und deutete mehrfach lachend auf meine Uhr, die noch immer am Boden lag. »Heya! Heya!«
Fasziniert schauten ihn die Umstehenden an. Doch plötzlich erhob sich ein Murmeln. Denn Aruba stellte tatsächlich den Kopf schräg, erspähte die Uhr, hob sie mit ihrem Rüssel auf - und ließ sie in Hannibals Hand fallen. Begeisterter Applaus beendete die kurze Vorstellung und der nun sehr entspannt wirkende Unternehmer deutete eine kleine Verbeugung an, bevor er mir das kostbare Stück in die Hand drückte. »Bitte sehr.Wissen Sie, Elefanten spielen gerne.Würde Aruba nicht trauern, hätte sie Ihnen die Uhr wahrscheinlich von allein zurück gegeben. So musste ich ein wenig nachhelfen. Aber es hat ja funktioniert.«
Ich streifte die Uhr über. »Wo haben Sie das gelernt?«
Er schwieg einen Augenblick, schüttelte dann in Gedanken versunken den Kopf und erwiderte melancholisch: »Bei einem guten Freund. Ist aber schon lange her. Mehr als dreißig Jahre.«
Eine Schwere hatte ihn mit einem Mal ergriffen und ich sagte spontan: »Ich würde mich gern für Ihre Hilfe bedanken. Darf ich Sie zu einem Glas Wein oder einem Bier einladen?«
So landeten wir im Zoo-Restaurant »Sambesi« - und ich erfuhr dort zum ersten Mal von den ungewöhnlichen Plänen Hannibal Mayers, die die Kraft hatten, mich und die Welt zu verändern.
Zu Beginn redete allerdings nur ich.Wir saßen auf großen Sesseln aus Bambus - und ich erzählte und erzählte. Aus irgendeinem Grund vertraute ich diesem Mann. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht ging ich davon aus, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Jedenfalls sprach ich offen von meinen Schreibblockaden, von der Enttäuschung über mein